Die Nachtwächter
Frau hatte ihm von den neuesten Gerüchten erzählt.
»Ah, du bist die Lady aus Gennua«, sagte er und nahm ihre Hand. »Ich habe viel von dir gehört.«
»Auch etwas Gutes?«, fragte Madame.
Lord Venturi sah durch den Ballsaal. Seine Frau schien in ein Gespräch vertieft zu sein. Aus unangenehmer Erfahrung wusste er, dass ihr Ehefrauenradar ein Ei auf eine Entfernung von einer halben Meile braten konnte. Doch der Sekt war sehr gut gewesen.
»Nur das Beste, Teuerste«, erwiderte er, was allerdings nicht ganz so witzig klang, wie er gehofft hatte. Madame lachte trotzdem. Vielleicht
war
er witzig. Dieser Sekt war wirklich hervorragend…
»Eine Frau muss in der Welt so gut zurechtkommen, wie sie kann«, sagte Madame.
»Darf ich mir die Kühnheit gestatten zu fragen, ob es einen Lord Meserole gibt?«, fragte Lord Venturi.
»So früh am Abend?«, erwiderte Madame und lachte erneut. Und Lord Venturi lachte mit ihr. Donnerwetter, das mit dem witzigen Kram ist viel leichter, als ich dachte!
»Nein, ich meinte natürlich…«, begann er.
»Ja, da bin ich sicher.« Madame berührte ihn mit ihrem Fächer am Arm. »Nun, ich will dich nicht mit Beschlag belegen, aber ich möchte euch beide einigen meiner Freunde vorstellen…«
Sie ergriff Lord Venturi an einem bereitwilligen Arm und führte ihn fort. Selachii folgte mürrisch und war der Ansicht: Wenn sich ehrbare Frauen Bobbi nannten, stand das Ende der Welt unmittelbar bevor, und das zu Recht.
»Herr Kartlich kommt aus der Kupferbranche, und Herr Jaujon hat mit Gummi zu tun«, flüsterte Madame.
Die Gruppe bestand aus sechs Männern, die sich leise unterhielten. Als sich Lord Venturi und Lord Selachii näherten, hörten sie: »… muss man sich in Zeiten wie diesen wirklich fragen, wo die eigene Loyalität liegt… oh, guten Abend, Madame…«
Auf ihrem nur scheinbar zufälligen Weg zum Büfetttisch begegnete Madame einigen anderen Herren und dirigierte sie wie eine gute Gastgeberin zu einer anderen kleinen Gruppe. Nur jemand, der hoch oben auf einem der großen Balken unter der Decke gelegen hätte, wäre imstande gewesen, ein Muster zu erkennen – vorausgesetzt, er kannte den Code. Hätte der Beobachter einen roten Punkt auf den Köpfen der Leute gesehen, die nicht zu den Freunden des Patriziers zählten, und einen weißen auf den Köpfen seiner Spezis und einen rosaroten auf den Köpfen der ewigen Zweifler, so hätte er eine Art Tanz erkannt. Es gab nicht viele weiße Punkte.
Hier und dort bildeten rote Punkte Gruppen. Weiße Punkte wurden ihnen beigefügt, einzeln oder zu zweit, wenn die Gruppen groß genug waren. Wenn ein Weißer eine Gruppe verließ, wurde er oder sie mühelos aufgenommen und zu einer anderen Gruppe geführt, zu der ein oder zwei Rosarote gehören mochten, die jedoch größtenteils aus Roten bestand.
Gespräche zwischen Weißen wurden mit einem Lächeln oder einem sanften »Oh, ich muss euch unbedingt jemanden vorstellen…« unterbrochen. Gelegentlich gesellten sich ihnen auch einige Rote hinzu. Unterdessen wurden die Rosaroten vorsichtig von einer roten Gruppe zur nächsten gereicht, bis ihr Rosarot
dunkler
wurde, und danach durften sie mit anderen Dunkelrosaroten sprechen, unter der Aufsicht eines Roten.
Die Rosaroten begegneten so vielen Roten, dass sie die Existenz der Weißen praktisch vergaßen. Und die Weißen waren entweder ständig allein oder den Roten und Rosaroten gegenüber so sehr in der Minderzahl, dass sie aus Verlegenheit oder dem Wunsch, nicht mehr so sehr aufzufallen, rot wurden.
Lord Winder war vollkommen von Roten umringt, ohne eine Möglichkeit, die wenigen noch verbliebenen Weißen zu erreichen. Er sah aus wie alle Patrizier nach einer gewissen Zeit im Amt: auf unangenehme Weise pummelig, mit den rosigen Hängebacken eines Mannes, der normal gebaut war, aber zu viel gutes Essen bekam. Er schwitzte leicht im eigentlich recht kühlen Ballsaal, und sein Blick huschte hin und her, hielt ständig nach verräterischen Anzeichen Ausschau.
Schließlich erreichte Madame das Büfett, wo Doktor Follett die scharf gewürzten Eier probierte und wo sich Rosemarie Palm fragte, ob die Zukunft sonderbare Teigwaren mit grünen Füllungen, in denen etwas an Garnelen denken ließ, bereithalten sollte.
»Und wie kommen wir zurecht?«, fragte Doktor Follett. Er schien zu einem Schwan aus Eis zu sprechen.
»Wir kommen gut zurecht«, teilte Madame einem Obstkorb mit. »Aber es gibt vier Personen, die uns noch immer Probleme
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