Die nächste Begegnung
behelfsmäßiges Rettungsschiff zusammen, und es gelang ihnen, vierundzwanzig Passagiere bei dieser wohl spektakulärsten Raumoperation aller Zeiten zu retten ...
Ellies Gedanken schweiften von Eponines Heldenepos ab. Sie stellte sich vor, wie lustig es auf Bernis Rettungsflug zugegangen sein musste. Benita hatte das Raumfahrzeug manuell gesteuert, ohne Nabelschnur und Sicherungsverbindung zum Kontrollzentrum auf der Erde, und sie hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um andere zu retten. Konnte es größere Liebe zu den Mitgeschöpfen derselben Spezies geben?
Und während sie über die selbstlose Opferbereitschaft der Benita Garcia nachdachte, tauchte in Ellies Gehirn ein Bild ihrer Mutter auf. Und danach eine hastige Bildmontage. Zuerst sah sie die Mutter in der Richterrobe, wie sie eine klare, präzise Rede vor dem Senat hielt. Dann massierte Nicole spät in der Nacht im Arbeitszimmer Richard den Nacken. Dann brachte sie Tag um Tag geduldig Benjy das Lesen bei. Dann fuhr sie neben Pat ri ck auf dem Fahrrad zum Tennisspielen im Park. Dann befahl sie dem Line, was er als Abendessen bereiten sollte. Und in der letzten Bildsequenz saß Nicole bei Ellie am Bett und gab Antworten auf Ellies Fragen über das Leben und die Liebe. Nein, meine Heldin ist meine Mutter! Das wurde Ellie mit plötzlicher Deutlichkeit bewusst. Sie ist ebenso unegoistisch wie Benita Garcia.
» ... und nun stellt euch mal bitte vor, wenn ihr das wollt, wie dieses sechzehn Jahre junge mexikanische Mädchen, das gerade aus dem Internat in den Ferien nach Hause gekommen ist, langsam die steile Treppenflucht der Pyramide des Zauberers in Uxmal hinaufsteigt. Drunten spielen in der schon frühlingswarmen Morgenluft Iguanas zwischen den Felsen und den Ruinen ...«
Eponine nickte Ellie zu. Nun war sie mit ihrer Rezitation an der Reihe. Sie erhob sich von ihrem Platz und sprach:
»You have seen it all, old lizard
(Das alles sahst du, alte Echse,)
Seen our joys, our tears,
(Sahst unsre Freuden und die Tränen,)
Our hearts full of dreams
(Die Herzen voll von Traumen)
and terrible desires.
(Und schrecklichem Verlangen.)
And does it never change?
(Und bleibt das ewig so?)
Did my Indian mother's mother
( Saß die indianische Mutter meiner Mutter)
Sit here on these steps
(Auf diesen Stufen hier)
One thousand years ago
(Vor einem Tausend Jahren,)
And tell to you the passions
(Sprach sie zu dir von Leidenschaften,)
she would not, could not share?
(Die sie mit keinem teilen wollte — konnte?)
At night I look unto the stars
(Nachts blicke ich zum Sternenhimmel auf)
And dare to see myself among them.
( Und seh mich kühn dort oben wandern.)
My heart soars above these pyraminds,
( Mein Herz fliegt von den Pyramidenkegein auf)
flying free into the everything-can-be.
( Und schwingt sich frei in die All-Möglichkeit)
Yes, Benita, the Iguanas tell me,
(Doch, Benita, murmeln die Iguanas,)
Yes to you and your mother's mother,
( Und ja zu dir und deiner Mutter Mutter,)
whose yearning dreams years ago
(Zu ihren ur-uralten Sehnsuchtsträumen,)
will now become fulfilled in you.«
(Die nun in dir Erfüllung finden.)
Als Ellie zu Ende gesprochen hatte, schimmerten ihre Wangen von den lautlosen Tränen, die sie geweint hatte. Die Lehrerin und Studienkollegen nahmen vielleicht an, sie sei von dem Gedicht und dem Kurzbe ri cht über das Leben Benita Garcias so tief bewegt worden. Aber sie konnten nicht wissen, dass Ellie in diesen Augenblicken eine tiefe, beinahe religiöse Gefühlserfahrung durchlebt hatte, nämlich die Erkenntnis, wie tief sie ihre Mutter liebte und verehrte.
Es war die letzte Probenwoche für die Schulaufführung. Eponine hatte ein altes Theaterstück ausgewählt, WARTEN AUF GODOT, von Samuel Beckett, einem Literaturnobelpreisträger des zwanzigsten Jahrhunderts, weil die Thematik des Stückes so gut zu dem Leben in New Eden passte.
Die beiden Hauptgestalten (das ganze Stück hindurch in Lumpen gekleidet) wurden von Ellie Wakefield und Pedro Martinez verkörpert, einem bildhübschen Neunzehnjährigen, einem jener >Problem<-Teenager, die man kurz vor dem Start dem Kolonistenkontingent noch angegliedert hatte.
Ohne die Kawabatas hätte Eponine das Werk nicht produzieren können. Die Bioten entwarfen und bauten die Kulissen, schufen die Kostüme, übernahmen die Lichteffekte und probten sogar mit den Schauspielern, wenn Eponine selbst verhindert war. Der Schule standen vier Kawabatas zur Verfügung, und während der
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