Die nächste Begegnung
lag es natürlich nahe, die Romane des ursprünglichen großen Kawabata, TAUSEND KRANICHE und SCHNEELAND, als Beispiele japanischer Literatur zu wählen. Der dreiwöchige Lyrikkurs umfasste sowohl Frost wie Rilke und Omar Khayyäm. Der Hauptakzent aber lag dabei auf Benita Garcia, und nicht nur wegen der Omnipräsenz von GarciaBioten in New Eden, sondern weil die Dichtung und das Leben dieser Autorin junge Menschen besonders faszinierten.
In dem Jahr, in dem Eponine per Gesetz verpflichtet wurde, die rote Armbinde der RV-41-Positiven zu tragen, hatten sich nur noch elf Schüler für ihren Oberstufenkurs eingeschrieben. Ihr Testergebnis hatte die Schulbehörde in ein schwieriges Dilemma gestürzt. Zwar hatte der Direktor sich mutig gegen die Forderungen einer lautstarken Elterngruppe (vorwiegend aus Hakone) gestemmt, die Eponines >Entfernung< aus der Schule verlangte, doch er und sein Stab hatten dennoch der allgemeinen Hysterie in der Kolonie gewisse Konzessionen gemacht und Eponines Oberstufenkurse zum Wahlfach erklärt. Demzufolge war jetzt natürlich ihre Klasse zahlenmäßig weit schwächer als in den zwei Jahren zuvor.
Ellie Wakefield war Eponines Lieblingsschülerin. Zwar hatte die junge Frau — wegen der jahrelangen Schlafperiode während der Rückreise ins Sonnensystem — gewaltige Wissenslücken, aber ihre angeborene Intelligenz und ihr Lerneifer und ihre Wissbegierde machten sie zu einem erfreulichen Lichtblick im Unterricht. Und so beauftragte Eponine Ellie häufig mit Sonderaufgaben. Am Morgen, an dem die Klasse sich Benita Garcia zuwenden sollte — es war zufällig ebenjener Morgen, an dem Richard Wakefield seiner Tochter gegenüber von seiner Besorgnis über die Klimakontrolle in der Kolonie gesprochen hatte —, sollte Ellie eines der Gedichte aus dem ersten Buch der Autorin, TRÄUME EINES MEXIKANISCHEN MÄDCHENS, auswendig vortragen, das die Mexikanerin noch als Teenager geschrieben hatte. Vorher jedoch versuchte Eponine mit einem kurzen Vortrag über Benitas Leben die Phantasie der jungen Leute anzuregen.
»Die wirkliche Benita Garcia war eine der bemerkenswertesten Frauen der Geschichte«, begann sie und machte eine Kopfbewegung zu dem bewegungslos in der Ecke stehenden Garcia-Bioten hin, der ihr in allen Routineangelegenheiten im Unterricht behilflich war. »Sie war eine Dichterin, eine Kosmonautin, führende Politikerin, Mystikerin ... ihr Leben spiegelt zugleich die Zeitgeschichte wider und bietet uns allen ein nacheifernswertes Vorbild.
Ihr Vater war Großgrundbesitzer in Yucatan, einem Halbinselteilstaat des mittelamerikanischen Landes Mexiko auf der Erde. Also weit entfernt von den künstlerischen und politischen Brennpunkten ihres Landes. Benita war ein Einzelkind, die Tochter einer Maya-Mutter und eines viel älteren Vaters. Ihre Kindheit verbrachte sie größtenteils allein auf der Plantage ihrer Familie, die an die grandiosen Ruinen der Puuc-Maya bei Uxmal grenzte. Als Kind spielte Benita oft zwischen den Pyramiden und andren Bauten dieses tausendjährigen Ortes religiöser Zeremonien.
Sie war von Anfang an eine begabte Schülerin, aber ihre reiche Phantasie und ihr feuriger Lebensdrang hoben sie deutlich über die anderen hinaus. Die ersten Gedichte schrieb sie mit neun Jahren, und als sie fünfzehn war und in einem katholischen Internat in Merida, der Hauptstadt Yucatans, waren zwei ihrer Gedichte in dem renommierten DIARIO DE MEXICO veröffentlicht worden.
Nach ihrem Oberschulabschluss verwirrte Benita ihre Lehrer und ihre Familie, indem sie ihren Entschluss verkündete, sie werde Kosmonautin werden. Im Jahr 2129 wurde sie als erste Mexikanerin in die Weltraum-Akademie in Colorado/ USA aufgenommen. Vier Jahre später, als sie Examen machte, hatte die drastische Beschneidung der Weltraumforschung bereits begonnen. Nach dem Crash von 2134 stürzte die Weltwirtschaft in jene als >Großes Chaos< bekannte Depression, und die Weltraumforschung wurde praktisch ganz aufgegeben. Benita wurde 2137 von der ISA auf die Warteliste abgeschoben und glaubte, damit sei ihre Kosmonautenkarriere beendet.
Im Jahre 2144 schleppte sich eines der letzten interplanetarischen Frachtschiffe, die James Martin, mühsam vom Mars zurück auf die Erde. An Bord waren vorwiegend Frauen und Kinder aus den Marskolonien. Das Schiff schaffte es kaum bis in die Erdumlaufbahn, und es sah so aus, als müssten alle Passagiere sterben. Benita Garcia und drei weitere Freunde aus dem Kosmonautenkorps hämmerten ein
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