Die nächste Begegnung
dem Platz um. »Sieh dir doch nur diese ganzen Leute an, die da herumwuseln und es alle dermaßen eilig haben. Kaum einer von ihnen hält jemals inne und vergewissert sich, wo wir sind ... Ich überprüfe unsern Standpunkt mindestens einmal pro Woche.« Plötzlich war sie sehr ernst geworden. »Seit meiner positiven RV-41-Diagnose habe ich das zwanghafte Bedürfnis, mich genau zu vergewissern, wo ich mich in diesem Universum befinde ... Manchmal frag ich mich, ob das mit meiner Angst vor dem Sterben zusammenhängt..
Nach einem langen Schweigen legte Eponine schließlich Ellie den Arm um die Schulter. »Hast du den ... Adler je nach dem ... Tod gefragt?«
»Nein«, antwortete Ellie leise. »Aber ich war erst vier Jahre alt, als wir den Nodus verließen. Ich hatte damals ganz gewiss keine Vorstellung davon, was Sterben bedeutet.«
»Da ich noch ein Kind war, dachte ich wie ein Kind ... « Eponine lachte leise in sich hinein. »Aber worüber hast du denn mit dem Adler gesprochen?«
»Ich kann mich nicht genau erinnern«, sagte Ellie. »Patrick hat mir später gesagt, der Adler hat uns besonders gern zugeschaut, wenn wir mit unsrem Spielzeug spielten.«
»Wirklich? « Eponine war verblüfft. »Das ist wirklich überraschend. Nach den Beschreibungen deiner Mutter hätte ich angenommen, dass der Adler viel zu steif und ernsthaft gewesen sei, als dass ihn Spielen interessiert hätte.«
»Ich sehe ihn noch ganz deutlich in meiner Erinnerung«, sagte Ellie, »obwohl ich so klein war. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wie seine Stimme geklungen hat.«
»Hast du je von ihm geträumt?«, fragte Eponine ein wenig später.
»Aber ja! Oft! Einmal war er dabei auf der Spitze eines gewaltigen Baums und schaute aus den Wolken zu mir herunter..
Wieder lachte Eponine. Dann warf sie einen raschen Blick auf ihre Uhr. »Ach, du liebe Zeit! Ich werde mich zu einer Verabredung verspäten. Und wann musst du in der Klinik sein?«
»Um sieben«, sagte Ellie.
»Dann machen wir uns aber besser beide auf den Weg!.
Als Eponine sich zu ihrer vierzehntägigen Routineuntersuchung in Dr. Turners Praxis einfand, brachte der diensthabende Tiasso sie ins Labor, nahm die Urin- und Blutproben ab und bat sie dann, ein wenig zu warten, da der »Doktor arg zurückhänge«.
Im Wartezimmer saß bereits ein sehr dunkelhäutiger Schwarzer und lächelte sie freundlich an. »Hallo«, sagte er, als ihre Blicke sich streiften. »Ich bin Amadou Diaba. Apotheker.«
Auch Eponine stellte sich namentlich vor. Sie hatte irgendwie das Gefühl, dem Mann früher schon einmal begegnet zu sein.
»Ein großer Tag, was? «, sagte der Mann nach kurzem Schweigen. »Was für eine Erleichterung, dass man diese verfluchte Binde endlich abnehmen durfte!«
Und nun erinnerte sich Eponine an Amadou. Sie hatte ihn ein paarmal bei Gruppenabenden der RV-41-Positiven getroffen. Jemand hatte Eponine gesagt, Amadou habe bei einer Bluttransfusion in den ersten Tagen der Kolonie das Virus bekommen. Und wie viele von uns hier sind Träger?, dachte Epo nine. Dreiundneunzig — oder sind es schon vierundneunzig? Und fünf davon haben das Virus bei einer Transfusion aufgeschnappt .. .
»Es sieht so aus, als würden große Dinge immer paarweise auftreten«, sagte Amadou. »Das Myshkin-Urteil kam grad ein paar Stunden früher raus, und dann hat man zum ersten Mal diese Leggies gesehen, diese Beinlinge.«
Eponine blickte ihn fragend an. »Wovon sprichst du?«, fragte sie.
»Was, du hast noch nichts von den Leggies gehört?« Amadou lachte glucksend. »Ja, wo lebst du denn?« Amadou ließ sich Zeit, ehe er eine Erklärung lieferte. »Das Erkundungsteam drüben an diesem zweiten Modul hat in den vergangenen paar Tagen das Volumen der Sondierungsbohrung erweitert. Und heute sahen sie sich plötzlich sechs fremdartigen Wesen gegenüber, die aus dem Sondierungsloch gekrochen kamen. Diese Leggies, wie der TV-Reporter sie nannte, leben anscheinend hinter dem Wall in dem zweiten Modul. Sie sehen aus wie haarige Golfbälle auf sechs langen, gelenkigen Beinen, und sie bewegen sich enorm rasch ... Sie krabbelten ungefähr eine Stunde lang über die Leute, die Bioten und die Geräte. Dann verschwanden sie wieder durch das Loch in der Mauer.«
Eponine wollte gerade fragen, als Dr. Turner aus seinem Sprechzimmer trat. »Mister Diaba und Miss Eponine? Ich hab hier für euch beide Detailauswertungen. Wer möchte zuerst?«
Die Augen des Arztes waren von einem bestürzend strahlenden Blau.
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