Die nächste Begegnung
Höherentwicklung über p ri mitives Territo ri al- und Aggressions-Verhalten hinaus erkennen lassen.
8
»Meine Heimat hieß Thailand. Es gab dort einen König, der auch >Rama< hieß, genau wie unser Raumschiff. Deine Großeltern — meine Mutter und mein Vater — leben dort vielleicht noch heute ... in einem Ort, der Lamphun hieß ... Hier, siehst du, da ist er.«
Nai zeigte auf einen Punkt auf der verblichenen Landkarte. Aber das Interesse der Zwillinge war ihr entglitten.
Sie sind einfach noch zu jung , dachte sie. Sogar bei so intelligenten Kindern ist das für vier Jahre doch zu viel verlangt .
»Also schön, ihr zwei.« Sie faltete die Karte wieder zusammen. »Ihr könntet jetzt raus und spielen.«
Galileo und Kepler zogen sich ihre dicken Jacken an, holten sich einen Ball und schossen durch die Vordertür auf die Straße hinaus. Gleich danach waren sie heftig am Kicken. Ach, mein Kenji, dachte Nai, als sie den Jungen von der Haustür aus zusah. Wie du ihnen fehlst! Es geht eben wirklich nicht, dass ein Elternteil beide Rollen erfüllt — Mutter und Vater ist.
Wie immer hatte sie die Geographiestunde damit begonnen, dass sie den Zwillingen wieder gesagt hatte, dass alle Kolonisten in New Eden ursprünglich von einem Planeten namens >Erde< stammten. Dann hatte sie ihnen eine Weltkarte ihres Ursprungsplaneten gezeigt, über die Grundbegriffe wie Ozeane und Kontinente gesprochen, dann Japan, das Herkunftsland ihres Vaters, gezeigt. Jetzt fühlte Nai nicht nur heftiges Heimweh, sondern auch stark ihre Einsamkeit.
Vielleicht hab ich die Geostunde gar nicht für euch gemacht, sondern für mich selber... Sie schaute ihren zwei Sporthelden beim Spiel unter dem schwachen Schein der Straßenbeleuchtung Avalons zu. Galileo dribbelte um Kepler herum und schoss auf ein imaginäres Tor.
Eponine kam gerade die Straße herunter auf sie zu, hob den Ball auf und warf ihn den Jungs wieder zu. Nai lächelte ihrer Freundin entgegen. »Was für eine Freude, dich zu sehen«, sagte sie. »Es tut mir heut richtig gut, ein glückliches Gesicht zu sehen.«
»Was ist los, Nai?«, fragte Eponine. »Geht dir das Leben hier in Avalon an die Nieren? — Na, immerhin ist Sonntag. Du brauchst nicht in der Waffenfabrik zu schuften, und die Kleinen müssen nicht in der Zentrale sein.«
Sie gingen ins Haus. »Und bestimmt ist dein verzweifeltes Gesicht nicht auf eure Lebensumstände zurückzuführen.« Eponine fuhr mit dem Arm durch das Zimmer. »Immerhin, du hast doch für euch drei ein großes Zimmer, sogar 'ne halbe Toilettenbenutzung und eine ganze Nasszelle für nur fünf andre Familien. Was willst du denn noch mehr?«
Nai lachte und umarmte ihre Freundin. »Du tust mir richtig gut«, sagte sie.
»Mammie, Mammie!« Kepler stand in der Tür. »Komm, ganz schnell!«, keuchte der Kleine. »Der Mann ist wieder da ... und redet mit Galileo.«
Die beiden Frauen gingen wieder zur Tür. Im Straßendreck neben Galileo kniete ein Mann mit einem stark entstellten Gesicht. Das Kind fürchtete sich ganz offenbar. In der behandschuhten Hand hielt der Mann ein Stück Papier. Darauf war das Gesicht eines Menschenmannes mit langem Kopfhaar und einem Vollbart sorgfältig genau dargestellt.
»Du kennst das Gesicht doch, du kennst es!«, sagte der Mann drängend. »Es ist Mister Richard Wakefield, oder?«
Nai und Eponine näherten sich dem Kerl vorsichtig. »Wir haben dir bereits beim letzten Mal gesagt«, erklärte Nai mit fester Stimme, »dass du die Jungen in Ruhe lassen sollst. Und jetzt geh zurück in die Station, oder wir rufen die Polizei.«
Die Augen des Mannes zuckten irre umher. »Ich hab ihn heute Nacht wieder gesehn«, sagte er. »Er sah aus wie Jesus, aber er war trotzdem bestimmt bloß Richard Wakefield. Ich wollte ihn grad abknallen, da haben die mich angegriffen. Zu fünft. Sie hamm mir das Gesicht zerfetzt ...« Der Mann begann zu heulen.
Ein Wärter kam rennend die Straße herunter. Er packte sich den Mann. »Aber ich hab ihn doch gesehen!«, brüllte der wilde Mensch, als er weggeführt wurde. »Ich weiß es doch genau, dass ich ihn gesehn hab. So glaubt mir doch!«
Galileo weinte. Nai bückte sich zu ihm nieder, um ihn zu trösten. »Mammi«, schluchzte das Kind, »meinst du, der Mann da hat wirklich Mister Wakefield gesehen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie und warf Eponine einen Blick zu. »Aber es gibt Leute unter uns, die das gern glauben möchten.«
Endlich waren die Jungen in ihren Betten in der Ecke
Weitere Kostenlose Bücher