Die nächste Begegnung
abgeschossen worden war.
Droben über unsrem Höhlenbunker liegt eine Inselstadt von rätselhaften, bis in die Wolken ragenden Türmen, die wir New York genannt haben. Darum herum breitet sich ein Eismeer, das ringförmig im Innern des gewaltigen Raumschiffes angelegt ist und es in zwei Hälften teilt. In diesem Moment sind wir — nach den Berechnungen deines Vaters — knapp innerhalb der Jupiterbahn (obwohl dieser gewaltige Gasballon sich weit entfernt befindet, auf der andren Seite der Sonne) und bewegen uns auf einer hyperbolischen Bahn, die uns schließlich und endgültig aus dem Sonnensystem hinaustragen wird. Wir wissen nicht, wohin die Reise geht. Wir wissen nicht, wer dieses Raumfahrzeug gebaut hat und zu welchem Zweck. Wir wissen, dass es an Bord noch weitere Passagiere gibt, aber wir haben nicht die geringste Ahnung, woher sie gekommen sind, und außerdem haben wir einigen Grund zu vermuten, dass wenigstens einige von ihnen uns feindlich gesonnen sein könnten.
Während der letzten zwei Tage kreisten meine Gedanken immer und immer wieder um dies gleiche Thema. Und jedes Mal gelange ich zu der gleichen bedrückenden Schlussfolgerung: Es ist unverzeihlich, dass wir als angeblich reife, erwachsene Personen solch ein hilfloses, unschuldiges Lebewesen einer Umwelt aussetzen, von der wir so wenig wissen, die wir kaum begreifen und über die wir absolut keine Kontrolle besitzen.
Ziemlich früh heute Morgen, kaum war mir eingefallen, dass es ja mein siebenunddreißigster Geburtstag war, begann ich zu weinen. Zuerst still und lautlos, doch als mir dann die Erinnerungen an alle vergangenen Geburtstage durch den Kopf schossen, begann ich heftig zu schluchzen. Ich fühlte einen schmerzhaft stechenden Kummer — nicht nur Simones wegen, sondern auch um mich selbst. Und wie ich mir so unseren prachtvollen blauen Ursprungsplaneten vorstellte und dass es ihn in Simones Leben nicht geben würde, fragte ich mich immer wieder: Warum nur habe ich ein Kind ins Leben gelassen, mitten hinein in diese — Sauerei?
Wieder dieses Wort. Eins von Richards Lieblingsworten. Bei ihm hat es praktisch unbegrenzte Anwendungsmöglichkeiten. Alles, was chaotisch ist und/oder der Kontrolle entzogen, egal ob ein technisches Problem oder eine häusliche Krise (etwa ein Eheweib, von heftiger postpartialer Depression gepackt, schluchzend), alles wird mit dem Wort >Sauerei< bezeichnet.
Die Männer waren heute früh keine große Hilfe. Ihre oberflächlichen Tröstungsversuche verstärkten im Gegenteil meine Trübseligkeit nur noch mehr. Frage: Wieso nimmt eigentlich fast jeder Mann, wenn er es mit einer unglücklichen Frau zu tun hat, sofort an, dass ihre Gefühlslage etwas mit ihm zu tun haben müsse? Aber hier bin ich nicht fair. Michael hatte selbst drei Kinder, weiß also doch ungefähr, wie ich mich fühle. Er fragte fast immer bloß, was er tun könne, um mir zu helfen. Aber Richard ersoff geradezu in meinen Tränen und verging vor Angst, als er erwachte und mich weinen hörte. Typischerweise dachte er zuerst, ich hätte irgendwie schreckliche körperliche Schmerzen. Er war dann auch nur ein bisschen beruhigt, als ich ihm erklärte, dass ich >nur< deprimiert bin.
Nachdem also grundsätzlich geklärt war, dass nicht er an meinem Emotionstief schuld sei, hörte mir Richard stumm zu, während ich ihm meine Bekümmertheit über Simones weiteres Leben, ihre Zukunft darlegte. Ich gebe es zu, ich war leicht überdreht, aber er begriff anscheinend überhaupt NICHTS von dem, was ich ihm sagte. Er wiederholte nur immer wieder dasselbe — dass Simones Zukunftschancen nicht ungewisser seien als die von uns dreien — und meinte anscheinend, dass meine Depression damit sofort verschwinden müsste, weil es keinen logischen Grund dafür gebe, dass ich dermaßen durcheinander bin. Schließlich, nach einstündiger Fehlkommunikation, gelangte Richard zu dem korrekten Schluss, dass er mir keine Hilfe sei, und entschied sich, mich in Ruhe zu lassen.
(Sechs Stunden später) Fühle mich jetzt besser. Immer noch drei Stunden, bis ich meinen Geburtstag hinter mir habe. Wir haben am Abend ein kleines Fest veranstaltet. Bin gerade mit dem Stillen fertig, Simone liegt wieder neben mir. Michael ging vor etwa einer Viertelstunde in sein Gemach am andern Ende der Halle. Fünf Minuten, nachdem Richard den Kopf auf d as Kissen gelegt hatte, war er weggeschlafen. Auf meine Bitte hin hatte er den ganzen Tag lang an der Verbesserung der Windelqualität gearbeitet.
Er
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