Die Namen der Toten
keine Leiter brauchten.
Er ließ den Lichtstrahl über die Regale wandern und rief: »Ich hab’s gefunden! Hier fängt 1947 an.« Aufgeregt zog er einige Bände heraus, bis er triumphierend erklärte: »Heute! Der 31. Januar.«
Sie setzten sich auf den kalten Boden zwischen den Regalen und legten das schwere Buch so hin, dass die eine Hälfte auf ihrem Oberschenkel ruhte, die andere auf seinem. Sie überflogen eine dicht mit Namen beschriebene Seite nach der anderen. Natus, Mors, Mors, Natus.
Atwood wusste nach einiger Zeit nicht mehr, wie viele Seiten sie umgeblättert hatten, fünfzig, sechzig oder siebzig?
Dann sah er es, kurz bevor sie es ebenfalls las: Reginald William Saunders Mors.
Das Grabungsteam hatte den Cunning Man in Fishbourne zu seinem Stammlokal erkoren. Das Gasthaus war von der Ausgrabungsstätte zu Fuß zu erreichen, das Bier war billig, und der Inhaber ließ sie für einen Penny pro Kopf die Badewanne im Gästeflügel benutzen. Das Schild des Pubs, das einen feixenden Mann zeigte der über einem Bachlauf kauerte und mit bloßen Händen eine Forelle fing, hatte ihnen stets ein Lächeln entlockt, doch an diesem Abend blieben ihre Mienen ernst. Bedrückt saßen die Archäologen allein an einem langen Tisch in der verqualmten Gaststube und mieden die Gesellschaft der Einheimischen.
Reggie warf einen Blick auf seine Uhr und versuchte die Sache herunterzuspielen. »Diese Runde geht auf mich, wenn ich mir ein paar Piepen leihen kann. Ich geb’s dir morgen zurück, Beatrice.«
Sie griff in ihre Handtasche und warf ein paar Scheine vor ihn auf den Tisch. »Hier, du Großmaul. Du zahlst es mir garantiert zurück, dafür sorge ich schon.«
Er schnappte sich die Banknoten. »Was meinen Sie, Prof? Letzter Vorhang für den alten Reg?«
»Ich gebe gern zu, dass mir die ganze Sache vollkommen rätselhaft ist«, sagte Atwood und kippte den letzten Schluck von seinem Bier hinunter. Es war bereits sein drittes Glas, viel mehr, als er üblicherweise trank, und er spürte die Wirkung. Doch sie hatten alle viel getrunken, und ihre Aussprache war schleppend geworden.
»Tja, wenn das mein letzter Abend auf der Welt ist, hab ich wenigstens den Bauch voll bestem Ale, wenn ich abtrete«, sagte Reggie. »Nochmal das Gleiche für alle?«
Er sammelte die leeren Bierkrüge ein und trug sie zur Bar. Als er außer Hörweite war, beugte sich Dennis vor und flüsterte den anderen zu: »Niemand glaubt doch diesen Blödsinn, oder?«
Martin schüttelte den Kopf. »Wenn es Blödsinn ist, wieso stand dann das Geburtsdatum vom Professor in einem der Bücher?«
»Genau, wieso?«, warf Timothy ein.
»Es muss eine wissenschaftliche Erklärung dafür geben«, sagte Beatrice.
»Wirklich?«, fragte Atwood. »Lässt sich wirklich alles fein säuberlich in einen wissenschaftlichen Rahmen einordnen?«
»Geoffrey!«, rief sie. »Und das von dir? Einem Empirismus-Fetischisten? Wann warst du das letzte Mal in einer Kirche?«
»Weiß ich nicht mehr. Allerdings habe ich ein paar ziemlich alte Exemplare davon ausgegraben.« Er wirkte leicht betrunken. »Wo bleibt mein Bier?« Er blickte auf und sah Reggie an der Bar stehen. »Oh, da ist er ja. Guter Mann. Hat Rommel überlebt. Hoffentlich überlebt er auch Vectis.«
Ernest war nachdenklich. Er war nicht so angetrunken wie die anderen. »Wir müssen ein paar Stichproben machen«, sagte er. »Wir müssen mehr Namen suchen, die wir kennen, vielleicht auch historische Persönlichkeiten, und ihre Daten überprüfen.«
»Genau der richtige Ansatz«, sagte Atwood und schlug mit der Hand auf einen Bierdeckel. »Mittels wissenschaftlicher Methoden beweisen, dass die Wissenschaft Blödsinn ist.«
»Und wenn alle Daten stimmen?«, fragte Dennis. »Was ist dann?«
»Dann übergeben wir das Ganze grusligen kleinen Männern, die in grusligen kleinen Büros in Whitehall gruslige kleine Dinge tun«, erwiderte Atwood.
»Das Verteidigungsministerium«, sagte Ernest leise.
»Warum denen?«, fragte Beatrice.
»Wem sonst?«, fragte Atwood. »Der Presse etwa? Dem Papst?« Reggie wartete darauf, dass der Wirt das letzte Pint fertig zapfte. »Wir sterben hier vor Durst!«, rief Atwood ihm zu.
»Komme gleich, Boss«, sagte Reggie.
Julian Barnes kam mit wehendem langen Mantel durch die Tür. Niemand war erstaunter als die Einheimischen, die ihn zwar kannten, aber noch nie in einem Pub gesehen hatten, schon gar nicht in diesem hier. Er hatte eine unangenehme Art an sich, eine Mischung aus
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