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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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Gebäuden stand, dass Luke etwas erkennen konnte, zugleich aber so weit entfernt, dass er dort ungesehen blieb. Von diesem Aussichtspunkt aus hielt er in dem kalten, grauen Nebel Wache.
    Er hörte die Glocken zur Prim läuten.
    Niemand betrat oder verließ das kapellengroße Gebäude.
    Wieder hörte er die Glocken, als sie das Ende der Gebetsstunde einläuteten.
    Alles war ruhig. Luke fragte sich, wie lange er wohl unbemerkt bliebe und welche Folgen seine mutwillige Täuschung Bruder Martins nach sich ziehen würde. Er würde sich mit seiner Strafe abfinden, hoffte jedoch zugleich, dass Gott barmherzig mit ihm verfahren und Verständnis für seine bemitleidenswerte Schwäche haben möge.
    Die Borke des Ahorns fühlte sich rau an seiner Wange an. Vor Müdigkeit döste Luke kurz ein, fuhr aber sofort wieder hoch, als die harte Rinde an seiner Haut scheuerte, weil er eine heftige Kopfbewegung gemacht hatte.
    Da sah er sie den Fußweg entlangkommen, geführt von Schwester Sabeline. Es wirkte, als würde sie an einem Seil gezogen. Schon von weitem erkannte er, dass sie weinte.
    Zumindest dieser Teil der Geschichte stimmte.
    Die beiden Frauen traten durch die Tür der Kapelle und verschwanden.
    Sein Puls beschleunigte sich. Er ballte die Fäuste und donnerte sie gegen den Baumstamm. Er betete um Beistand.
    Aber er unternahm nichts.
     
    Elizabeth fühlte sich wie in einem Traum, als sie die Kapelle betrat und nach unten stieg. Niemals würde sie ganz begreifen, was sie nun gleich zu sehen bekam, und als alte Frau würde sie allein am Feuer sitzen und darüber nachgrübeln, ob all das überhaupt wirklich geschehen war.
    Die Kapelle war ein leerer Raum mit einem blauen Steinboden. Bis auf eine geringe Höhe waren die Mauern aus Stein, doch hauptsächlich bestand das Gebäude mit dem steilen Schindeldach aus Holz. Der einzige Schmuck war ein vergoldetes Holzkreuz, das über einer Eichentür an der hinteren Wand hing.
    Schwester Sabeline zog Elizabeth durch diese Tür und führte sie die steile Treppe hinab, die tief unter die Erde führte.
    An der Schwelle zum Saal der Schreiber blinzelte Elizabeth in das düstere Gewölbe und versuchte zu verstehen, was sie da sah. Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie Sabeline an, doch die wies sie lediglich mit eisigem Tonfall zurecht. »Hüte deine Zunge, Mädchen.«
    Keiner der Schreiber schien Notiz von Elizabeth zu nehmen, als Sabeline sie an ihnen vorbeizerrte, an einem nach dem anderen, Reihe um Reihe, bis ein Mann den rotblonden Kopf von seinem Blatt hob und zu dem Mädchen hinüberblickte. Er war etwa achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Elizabeth bemerkte, dass drei der spindeldürren Finger seiner rechten Hand mit schwarzer Tinte befleckt waren, und meinte ein tiefes Knurren zu hören, das sich seiner schmalen Brust entrang.
    Sabeline zerrte das entsetzte Mädchen weiter. Am Ende der Reihe zog Sabeline es zu einem Torbogen, der in ein schwarzes Nichts zu führen schien. Elizabeth war davon überzeugt, dass sie vor dem Tor zur Hölle stand. Als sie hindurchging, wandte sie den Kopf um und sah, wie sich der knurrende junge Mann von seinem Tisch erhob.
    Das Tor zum Nichts war der Eingang zu den Katakomben. Wenn der erste Raum nach Elend gerochen hatte, so roch der zweite nach Tod. Elizabeth würgte und schnappte nach Luft. Gelbliche Skelette, von denen Fleischfetzen herabhingen, waren wie Brennholz in die Wandnischen gestapelt. Sabeline hielt eine Kerze hoch, und überall, wo der Lichtschein hinfiel, sah Elizabeth Schädel mit grotesk aufklaffenden Kiefern. Sie betete darum, ohnmächtig zu werden, doch Gott erhörte sie nicht.
    Elizabeth spürte, dass sie nicht mehr allein waren. Jemand stand neben ihr. Sie fuhr herum und hatte das stumpfe, ausdruckslose Gesicht und die grünen Augen des jungen Mannes vor sich. Er versperrte den Gang. Dann zog sich Sabeline etwas zurück. Ihr Ärmel streifte die Beinknochen eines Skeletts, sodass sie klapperten wie ein Windspiel. Sie hielt die Kerze empor und ließ die beiden nicht aus den Augen. Elizabeth hechelte wie ein Tier. Sie hätte fliehen können, tiefer in die Katakomben, doch sie fürchtete sich zu sehr. Der rotblonde Mann stand mit hängenden Armen dicht vor ihr. Etliche Sekunden verstrichen. Unwillig rief ihm Sabeline zu: »Ich habe dir dieses Mädchen gebracht!« Doch nichts geschah. Nach einiger Zeit befahl die Nonne: »Fass sie an!«
    Elizabeth wappnete sich. Gleich würde sie von einem lebenden Skelett berührt werden. Sie schloss

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