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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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die Augen. Dann spürte sie eine Hand auf der Schulter, doch zu ihrem Erstaunen empfand sie keinen Widerwillen. Die Berührung wirkte sogar beruhigend. Dann hörte sie Schwester Sabeline rufen: »Was machst du hier? Was machst du hier?« Elizabeth schlug die Augen auf, und wie durch ein Wunder sah sie Lukes Gesicht vor sich. Der bleiche rotblonde Mann lag auf dem Boden und versuchte sich von der Stelle aufzurichten, an der Luke ihn niedergestoßen hatte. »Bruder Luke, geh!«, schrie Sabeline. »Du entweihst einen geheiligten Ort!«
    »Ich gehe nicht ohne das Mädchen«, sagte Luke herausfordernd. »Wie kannst du diesen Ort geheiligt nennen? Alles, was ich sehe, ist schamlos und böse.«
    »Du verstehst das nicht!«, rief die Nonne außer sich.
    Plötzlich hörten sie Lärm aus dem Saal der Schreiber.
    Dumpfe Schläge.
    Poltern.
    Stöhnen. Klirren.
    Der rotblonde Mann erhob sich und lief eilig auf den Lärm zu.
    »Was geht da vor?«, fragte Luke.
    Sabeline antwortete nicht. Sie eilte mit ihrer Kerze zum Saal und ließ Elizabeth und Luke in der undurchdringlichen Dunkelheit stehen.
    »Bist du unversehrt?«, fragte Luke zärtlich. Noch immer lag seine Hand auf ihrer Schulter, er hatte Elizabeth die ganze Zeit nicht mehr losgelassen.
    »Du bist meinetwegen gekommen«, flüsterte sie.
    Er führte sie durch die Dunkelheit zum Licht, in den Saal.
    Doch dies war nicht mehr der Saal der Schreiber.
    Es war der Saal der Toten.
    Der einzige lebende Mensch, den sie sahen, war Sabeline, deren Schuhe mit Blut getränkt waren. Ziellos lief sie zwischen den Leichen umher, die über den Tischen und auf den Bettstellen lagen, zu Boden gesunken waren, ein Meer lebloser Leiber, nur hier und da fuhr noch ein letztes Zucken und unwillkürliches Zittern durch einen Körper. Mit entsetzter Miene und glasigem Blick sah sich Sabeline um und murmelte ein ums andere Mal: »Mein Gott, mein Gott, mein Gott, mein Gott«, als wollte sie einen Psalm anstimmen.
    Luke nahm Elizabeth an der Hand und führte sie quer durch diese Stätte des Grauens. Er war geistesgegenwärtig genug, einen Blick auf die meist blutbesudelten Pergamente zu werfen, die auf den Schreibtischen lagen. War es Neugier oder schierer Überlebenswille, der ihn dazu trieb, eines der Blätter zu ergreifen, als er flüchtete? Darüber würde er in den Jahren, die da noch kamen, oft nachdenken.
    Sie rannten die steilen Stufen hinauf, durch die Kapelle und hinaus in den Nebel und den Regen. Sie rannten so lange weiter, bis sie eine Meile vom Klostertor entfernt waren. Erst dann hielten sie inne, damit sich ihre brennenden Lungen beruhigen konnten, und hörten die Sturmglocken der Kathedrale läuten.

1. August 2009 – Los Angeles
    Die Navy verfügte über eine einzige Zivilmaschine, den luxuriösen Hochleistungsjet C-37A, den der Staatssekretär für Marineangelegenheiten bevorzugt nutzte. Die beiden Rolls-Royce-Turbofan-Triebwerke verliehen dem Jet beim Start eine geradezu atemberaubende Schubkraft, und innerhalb von Sekunden verschwand das endlose Lichtermeer von Los Angeles unter den tiefhängenden Wolken.
    Harris Lester hielt sich nach einem anstrengenden Tag hauptsächlich mit Koffein wach. Er war vor Anbruch der Morgendämmerung von seinem Haus in Fairfax, Virginia, aufgebrochen, erst zum Pentagon, dann zur Andrews Air Force Base gefahren und von dort aus nach Los Angeles geflogen. Nach einem kurzen Aufenthalt in L.A. befand er sich jetzt auf dem Rückflug nach Washington. Sein Gesicht wirkte schlaff und ungesund, sein Atem roch schal. Das einzig Frische an ihm waren sein Oberhemd und die gebügelte Krawatte, die aussahen, als wären sie gerade aus den raschelnden Seidenpapierlagen einer Brooks-Brothers-Schachtel gezogen worden.
    Nur drei Personen befanden sich im Passagierabteil, das mit seiner Holzverkleidung und den einander an glatten Teakholztischen gegenüberstehenden dunkelblauen Ledersesseln eher wie ein Club eingerichtet war. Lester saß gegen die Flugrichtung. Auf der anderen Seite des Ganges hatte sich Malcolm Frazier niedergelassen, dessen kantiges Gesicht zu einem Dauerlächeln verzogen war.
    Beide starrten den Mann an, der Lester gegenübersaß und sich mit einer Hand an der Armlehne und mit der anderen an einem geschliffenen Kristallglas mit Scotch festhielt. Will war fast schlecht vor Müdigkeit, aber in gewisser Weise war er zugleich der entspannteste Mensch an Bord. Er hatte seine Karten gespielt, und allem Anschein nach hielt er das Siegerblatt in der

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