Die Namen der Toten
vom Altar hinabschritt, und fand, dass Oswyn noch nie so alt und gebrechlich gewirkt hatte.
Josephus schlief unruhig in dieser Nacht, immer wieder wurde er von verstörenden Träumen heimgesucht, in denen blutrote Kometen und Kinder mit rot glühenden Augen auftauchten. In einem seiner Träume versammelten sich Menschen auf einem Dorfplatz, zusammengerufen von einem Glöckner mit einem starken und einem verkrüppelten Arm. Der Glöckner war verzweifelt und schluchzte, und dann wachte Josephus auf, und mit einem Mal wurde ihm klar, dass dieser Mann Oswyn war.
Jemand hämmerte an seine Tür.
»Ja?«
Auf der anderen Seite hörte er einen jungen Mann sagen: »Prior Josephus, es tut mir leid, dass ich dich aufwecken muss.«
»Tritt ein.«
Es war Theodore, ein Novize, der in dieser Nacht Dienst im Pförtnerhaus hatte.
»Julianus, der Sohn von Ubertus, dem Steinmetz, ist gekommen. Er bittet dich darum, mit ihm zur Hütte seines Vaters zu gehen. Seine Mutter hat eine schwere Geburt und überlebt sie möglicherweise nicht.«
»Das Kind ist noch nicht geboren?«
»Nein, Vater.«
»Welche Stunde haben wir, mein Sohn?« Josephus schwang die Beine aus dem Bett und rieb sich die Augen.
»Die elfte.«
»Dann bricht bald der siebte Tag an.«
Der Weg zur Ortschaft war von den Rädern der Ochsenkarren zerfurcht, und in der dunklen, mondlosen Nacht hätte sich Josephus beinahe den Knöchel verstaucht. Mühsam versuchte er mit Julianus mitzuhalten, der mit langen Schritten vorausging. Er wollte dem schwarzen Schemen des Jungen dicht folgen, um nicht vom Weg abzukommen. Der kühle, leichte Wind trug das Zirpen der Grillen und die Schreie der Möwen an sein Ohr. Normalerweise hätte Josephus diese Nachtmusik genossen, doch heute nahm er sie kaum wahr.
Als sie sich der ersten Hütte näherten, hörte Josephus die Glocke der Abtei, die zum Nachtgottesdienst rief.
Mitternacht.
Oswyn würde erfahren, dass er sich fortbegeben hatte, und Josephus war davon überzeugt, dass der Abt darüber alles andere als erfreut sein würde.
Obwohl es mitten in der Nacht war, herrschte in der Ortschaft reges Treiben. Von weitem sah Josephus den Schein der Öllampen durch die Türen der kleinen, mit Stroh gedeckten Hütten fallen, dazu Fackeln, die sich auf den Straßen bewegten, Zeichen dafür, dass dort Menschen unterwegs waren. Als er näher kam, erkannte er, dass alle auf Ubertus’ Hütte zustrebten. Zahlreiche Dorfbewohner standen schon davor, und ihre Fackeln warfen lange, unheimliche Schatten. Drei Männer drängten sich um die Tür und spähten hinein, sodass ihre Rücken eine Mauer bildeten, die den Eingang blockierte. Josephus hörte aufgeregtes Geschnatter auf Italienisch, dazwischen Fetzen lateinischer Gebete, die die Steinmetze in der Kirche aufgeschnappt und sich zu eigen gemacht hatten.
»Gebt den Weg frei, der Prior von Vectis ist hier«, rief Julianus, worauf die Männer zur Seite wichen, sich bekreuzigten und verbeugten.
Drinnen ertönte ein Schrei, der Schmerzensschrei einer Frau, so gellend und markerschütternd, dass einem schier das Blut gerann. Josephus spürte, wie seine Beine nachgaben. »Gütiger Gott!«, stieß er aus, bevor er sich dazu zwang, die Schwelle zu überschreiten.
In der Hütte drängten sich so viele Angehörige und Nachbarn, dass zwei hinausmussten, damit Josephus eintreten konnte. Ubertus, ein Mann, so hart wie die Kalksteine, die er behaute, saß zusammengesunken am Herd, den Kopf in die Hände gebettet.
»Prior Josephus, Gott sei Dank, dass du gekommen bist«, rief er mit matter, erschöpfter Stimme. »Bitte bete für Santesa! Bete für uns alle!«
Santesa lag im besten Bett, umringt von Frauen. Sie hatte sich auf die Seite gedreht und die Knie an den gewölbten Bauch gezogen, sodass ihr Nachtgewand hochgerutscht war und die Schenkel entblößt waren. Ihr Gesicht war rot wie eine Runkelrübe und so verzerrt, dass es kaum noch menschlich wirkte.
Sie hat etwas Animalisches an sich, dachte Josephus. Vielleicht hat der Teufel schon Besitz von ihr ergriffen.
Eine stämmige Frau, das Weib von Marcus, dem Vorarbeiter der Cementarii, wie er erkannte, leitete offenbar die Geburtsvorbereitungen. Sie saß am Fußende des Bettes und schob den Kopf ein ums andere Mal unter Santesas Gewand, redete etwas auf Italienisch und rief Santesa Anweisungen zu. Ihre Haare waren zu Zöpfen geflochten und nach hinten gerafft, damit sie ihr nicht in die Augen fielen, ihre Hände und ihr Kittel waren von einer
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