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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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winkte ihn mit dem Zeigefinger nach draußen.
    »Einen guten Tag, Bruder«, sagte Josephus und blinzelte in die gleißende Mittagssonne.
    »Einen guten Tag auch dir.« Paulinus wirkte besorgt. »Morgen ist laut meinen Berechnungen der Tag«, flüsterte er.
    »Ja, ja«, pflichtete Josephus bei. »Endlich ist es so weit.«
    »Letzte Nacht habe ich eine ganze Weile den Kometen betrachtet.«
    »Und?«
    »Um Mitternacht wurde sein Schweif leuchtend rot. Wie Blut.«
    »Was hat das zu bedeuten?«
    »Ich glaube, das ist ein unheilvolles Zeichen.«
    »Ich habe gehört, dass bei der Frau die Wehen eingesetzt haben«, entgegnete Josephus hoffnungsvoll.
    Paulinus verschränkte die Arme und schürzte abschätzig die Lippen. »Und du nimmst an, dass dieses Kind rasch zur Welt kommen wird, weil sie schon so alt geboren hat? Eher am sechsten Tag des Monats als am siebten?«
    »Nun, die Hoffnung besteht«, sagte Josephus.
    »Er war blutrot«, beharrte Paulinus.
    Die Sonne stieg höher, und Josephus beeilte sich, seinen Rundgang zu beenden, bevor sich die Gemeinschaft zur Sext im Sanktuarium einfand. Er hastete am Dormitorium der Nonnen vorbei und betrat den Kapitelsaal, dessen aus Kiefernholz gezimmerte Bankreihen leer waren, bis der Abt der versammelten Gemeinschaft zur festgesetzten Stunde ein Kapitel aus der Regula Benedicti vorlas. Ein Spatz hatte sich hereinverirrt und flatterte aufgeregt umher, deshalb ließ Josephus die Tür offen und hoffte, dass der Vogel von selbst hinausfinden würde. Im hinteren Teil des Kapitelsaals klopfte er an die Tür zur angrenzenden Studienkammer des Abts.
    Oswyn saß an seinem Tisch und hatte den Kopf über die Bibel gebeugt. Goldene Lichtstrahlen fielen durch die verglasten Fenster auf den Tisch, sodass es aussah, als leuchtete die Heilige Schrift in einem feurigen Orangeton. Oswyn richtete sich so weit auf, dass er seinen Prior ansehen konnte. »Ah, Josephus. Wie ist es heute um die Abtei bestellt?«
    »Alles ist in bester Ordnung, Vater Abt.«
    »Und wie geht es mit der Kirche voran, Josephus? Was macht der zweite Bogen an der Ostwand?«
    »Der Bogen ist nahezu vollendet. Allerdings ist Ubertus, der Steinmetz, heute nicht da.«
    »Geht es ihm nicht gut?«
    »Doch, aber bei seiner Frau haben die Wehen eingesetzt.«
    »Ach ja. Ich erinnere mich.« Er wartete darauf, dass der Prior weitersprach, aber Josephus schwieg. »Machst du dir Sorgen wegen dieser Geburt?«
    »Sie kommt möglicherweise zu einem ungünstigen Zeitpunkt.«
    »Der Herr wird uns beschützen, Prior Josephus. Das kann ich dir versichern.«
    »Ja, Vater. Dennoch frage ich mich, ob ich mich nicht in die Ortschaft begeben sollte.«
    »Zu welchem Zweck?«, fragte Oswyn scharf.
    »Für den Fall, dass ein Geistlicher benötigt wird«, sagte Josephus in aller Demut.
    »Du kennst meinen Standpunkt, was das Verlassen des Klosters betrifft. Wir sind Diener Christi, Josephus, nicht Diener der Menschen.«
    »Ja, Vater.«
    »Haben die Dorfbewohner nach uns geschickt?«
    »Nein, Vater.«
    »Dann würde ich dir davon abraten, ihre Angelegenheiten zu deinen zu machen.« Er stemmte sich vom Stuhl hoch. »Und nun lass uns zur Sext gehen und gemeinsam mit den Brüdern und Schwestern den Herrn lobpreisen.«
     
    Die Vesper, die Abendandacht zum Sonnenuntergang, mochte Josephus am liebsten, da der Abt dabei gestattete, dass Schwester Magdalena die Gebete auf dem Psalterium begleitete. Geschickt zupfte sie mit ihren langen Fingern die zehn Saiten des Instruments und entlockte ihm Töne, die so herrlich waren, dass sie, wie er meinte, von der Größe des allmächtigen Gottes zeugten. Nach dem Gottesdienst verließen die Brüder und Schwestern das Sanktuarium und begaben sich zu ihren jeweiligen Dormitorien, vorbei an den Steinblöcken, dem Schutt und den Gerüsten, auf denen die Italiener tagsüber gearbeitet hatten. In seiner Zelle versuchte Josephus einen klaren Kopf zu bekommen, um eine Zeitlang nachzudenken, aber er wurde von leisen Geräuschen in der Ferne abgelenkt. Näherte sich jemand dem Gebäude? Überbrachte man Nachricht von der Geburt? Er rechnete jeden Moment damit, dass die Glocke erklang.
    Ehe er sich’s versah, war es Zeit für die Komplet, und er musste sich zum letzten Gebet des Tages in die Kirche begeben. Weil er fortwährend nachgedacht hatte, hatte er nicht zu Ruhe und Besinnung gefunden, daher betete er um Vergebung seiner Sünden. Als die letzten Töne des Gesangs verklungen waren, sah er zu, wie der Abt vorsichtig die Stufen

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