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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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sich an Josephus, als wolle sie sich auch seiner Zustimmung versichern.
    Er nickte. Es musste sein.
    Ubertus stand neben dem Bett, sprachlos angesichts der grausigen Situation. Seine mächtigen, muskulösen Arme hingen kraftlos herab. Dann rief er: »Ich flehe dich an, Herr«, doch niemand wusste genau, ob er für seine Frau oder seinen Sohn betete.
    Die Hebamme begann zu ziehen. Ihrer angespannten Miene nach zu schließen, musste sie all ihre Kraft aufbieten. Santesa murmelte etwas Unverständliches, nahm aber die Schmerzen offenbar nicht mehr wahr.
    Die Hebamme löste ihre Hände und ließ ab, wischte sie an ihrem Kittel ab und atmete tief ein. Dann ergriff sie die Beine wieder und fing erneut an zu ziehen.
    Diesmal regte sich etwas. Langsam kam es heraus. Knie, Oberschenkel, ein Penis, der Hintern. Dann war das Kind mit einem Mal draußen. Der Geburtskanal gab den großen Kopf frei, und der Junge lag in den Händen der Hebamme.
    Es war ein großes Kind, gut entwickelt, aber blau wie Ton und völlig leblos. Während jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im Raum bangen Blickes zusah, quoll die Plazenta heraus und fiel auf den Boden. In diesem Moment krampfte sich die Brust des Säuglings zusammen, und er atmete ein. Dann folgte ein weiterer Atemzug. Und binnen kürzester Zeit wurde der blaue Junge rosig und quiekte wie ein Ferkel.
    Während das Kind das erste Lebenszeichen von sich gab, suchte der Tod die Mutter heim. Sie atmete ein letztes Mal, dann regte sie sich nicht mehr.
    Ubertus brüllte vor Schmerz auf und riss der Hebamme den Säugling aus den Händen.
    »Das ist nicht mein Sohn!«, schrie er. »Er ist des Teufels!«
    Er lief davon, schleppte an den Schuhen die Plazenta über den blanken Erdboden und bahnte sich mit den Schultern einen Weg durch das Gedränge bis zur Tür. Josephus war zu verwirrt, als dass er etwas hätte unternehmen können. Er öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus.
    Inzwischen stand Ubertus auf der Gasse, hielt seinen Sohn fest gepackt mit erbarmungslosen Händen und heulte wie ein Tier. Dann ergriff er vor den Augen der Dorfbewohner, die mit ihren Fackeln dastanden, die Nabelschnur und schleuderte den Säugling hoch in die Luft, als wolle er ein Seil auswerfen.
    Dann riss er den kleinen Körper mit aller Kraft herunter und schmetterte ihn auf den Boden.
    »Eins!«, schrie er.
    Er schwang das Kind wieder empor und schleuderte es erneut nach unten.
    »Zwei!«
    Ein ums andere Mal: »Drei! Vier! Fünf! Sechs! Sieben!«
    Dann ließ er den blutigen, zerschmetterten Leichnam auf der Gasse liegen und schleppte sich wie betäubt in die Hütte zurück.
    »Es ist getan. Ich habe ihn getötet.«
    Er begriff nicht, weshalb ihn niemand beachtete.
    Stattdessen waren aller Augen auf die Hebamme gerichtet, die sich über die leblose Santesa beugte und sich aufgeregt zwischen ihren Beinen zu schaffen machte.
    Ein rötlich gelber Haarschopf kam zum Vorschein.
    Dann eine Stirn.
    Und eine Nase.
    Josephus sah voller Erstaunen zu, er traute kaum seinen Augen. Ein weiteres Kind entsprang dem leblosen Schoß.
    »Mirabile dictu!«, murmelte er.
    Die Hebamme verzerrte das Gesicht und zog das Kinn heraus, dann die Schulter und einen langen, schlanken Leib. Es war ein weiterer Junge, der ohne einen Klaps sofort zu atmen begann, wobei er tief und kräftig Luft holte.
    »Ein Wunder!«, sagte ein Mann, und alle wiederholten es.
    Ubertus torkelte nach vorn und starrte mit glasigen Augen auf das Geschehen.
    »Das ist mein achter Sohn!«, rief er. »O Santesa, du hast Zwillinge geboren!« Vorsichtig betastete er die Wange des Neugeborenen, so als fasste er an einen heißen Kochtopf.
    Der Kleine wand sich in den Händen der Hebamme, schrie aber nicht.
     
    Als sich Ubertus neun Monate zuvor in Santesas Schoß ergossen hatte, waren in ihr nicht eine, sondern zwei Eizellen herangereift.
    Aus dem zweiten befruchteten Ei hatte sich der Säugling entwickelt, der jetzt zerschmettert auf dem Karrenweg lag.
    Aus dem ersten befruchteten Ei wuchs der siebte Sohn, der rotblonde Junge, der jetzt alle Anwesenden in seinen Bann schlug.

19. März 2009 – Las Vegas
    Als Einzelkind , das in Lexington, Massachusetts, aufwuchs, erlebte Mark Shackleton nur selten Enttäuschungen. Seine der Mittelschicht angehörenden Eltern waren so vernarrt in ihn, dass sie ihm jeden Wunsch erfüllten und er kaum ein Nein zu hören bekam. Auch in der Schule blieben ihm Probleme erspart, da er dank seiner raschen Auffassungsgabe alle

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