Die Namen der Toten
näherte.
Wie konnte alles nur so friedlich wirken?
Was, in Gottes Namen, würde der morgige Tag bringen?
Die Kirche der Abtei Vectis war heute ein großes, noch unvollendetes Werk und Quell des Stolzes. Die vor einem Jahrhundert aus Holz und Stroh errichtete Kirche war schon immer ein festes Gebäude gewesen und hatte den starken Küstenwinden und peitschenden Stürmen standgehalten. Die Geschichte der Kirche und der Abtei war wohlbekannt, da ein paar der älteren Mönche noch mit einigen der Gründerbrüder gedient hatten. Einer von ihnen, der hochbetagte Alric, der inzwischen so gebrechlich war, dass er seine Zelle nicht einmal mehr zur Messe verlassen konnte, hatte in seiner Jugend sogar Birinus kennengelernt, den Bischof von Dorchester.
Birinus, ein Franke, war im Jahr 634 nach Wessex gekommen, nachdem ihn Papst Honorius zum Bischof ernannt und mit der Bekehrung der heidnischen Westsachsen betraut hatte. Bald darauf fand er sich als Vermittler bei einem Bürgerkrieg in diesem gottverlassenen Land wieder und bemühte sich darum, ein Bündnis zu schmieden zwischen Cynegils, dem ungehobelten König der Westsachsen, und Oswald, dem König von Northumbrien, einem Christen und weitaus angenehmeren Menschen. Doch Oswald wollte sich nicht mit einem Ungläubigen verbünden, worauf Birinus, der spürte, dass sich ihm eine ruhmreiche Gelegenheit bot, Cynegils dazu überredete, sich zum Christentum zu bekehren, und ihm höchstselbst im Namen Christi das geweihte Wasser über die verfilzten Haare goss.
Daraus entstand ein Bündnis mit Oswald, gefolgt von einem lange währenden Frieden. Cynegils überließ Birinus aus Dankbarkeit Dorchester als Bistum und wurde zu seinem Wohltäter. Birinus schickte sich seinerseits an, im ganzen Süden Britanniens Klöster nach dem Vorbild des heiligen Benedikt zu gründen, und als 686, im Jahr der großen Pestseuche, die Urkunde für die Abtei Vectis besiegelt wurde, begab sich auch die letzte der britannischen Inseln in die Obhut der Christenheit. Cynegils vermachte der Kirche 60 Hufen guten Landes in der Nähe eines Flusses auf dieser abgeschiedenen Insel, die von der Küste von Wessex aus mühelos per Schiff zu erreichen war.
Jetzt war es Aetia, der derzeitige Bischof von Dorchester, der dafür sorgen musste, dass weiterhin Silber vom königlichen Hof an die Kirche floss. Er hatte König Offa von Mercien davon überzeugt, dass es ihm zum Seelenheil gereichte, für die nächste Baustufe der Abtei Vectis aufzukommen, nämlich den Umbau der Holzkirche in ein stattliches Gemäuer, zum Lobe und zur Ehre des Herrn. Denn Ruhm und Ansehen, so hatte der Bischof dem König zugemurmelt, erringe man nicht mit Eiche, sondern mit Stein.
In einem Steinbruch unweit des Klosters waren seit zwei Jahren italienische Steinmetze am Werk, die Sandsteinblöcke behauten und mit Ochsenkarren zur Abtei schafften, wo die Cementarii sie verarbeiten und so nach und nach die Kirchenmauern errichteten, wobei sie den vorhandenen Holzbau als Gerüst und Fachwerk nutzten. Den ganzen Tag lang ertönte unentwegt das Klirren der Meißel, nur zu den Gottesdienstzeiten verstummte es, wenn sich die Mönche zu stillem Gebet im Sanktuarium einfanden.
Josephus kehrte auf dem Weg zu den Laudes kurz ins Dormitorium zurück und öffnete leise die Tür von Alrics Zelle, um sich davon zu überzeugen, dass der alte Mönch die Nacht überstanden hatte. Er freute sich, als er das Schnarchen hörte, flüsterte ein kurzes Gebet über der zusammengerollten Gestalt und begab sich über die Nachttreppe in die Kirche.
Nur ein knappes Dutzend Kerzen erhellte das Sanktuarium, aber das Licht genügte, um Missgeschicke zu verhindern. Hoch oben in der Dunkelheit sah Josephus die Schemen der Fledermäuse, die zwischen den Dachsparren hin und her schossen. Die Brüder standen einander in zwei Reihen zu beiden Seiten des Altars gegenüber und warteten auf die Ankunft des Abts. Josephus schlich sich neben Paulinus, einen kleinen, nervösen Mönch, und hätten sie nicht das Knarren der schweren Kirchentür gehört, hätten sie ein paar kurze Grußworte ausgetauscht. Doch schon näherte sich der Abt, deshalb schwiegen sie lieber.
Abt Oswyn war ein imposanter Mann mit langen Gliedmaßen und breiten Schultern, der viele Jahre lang einen Kopf größer als seine Mitbrüder gewesen war, aber im Alter schien er zu schrumpfen, zumal er von einer schmerzhaften Rückgratverkrümmung gebeugt wurde. Infolge dieses Gebrechens war sein Blick ständig zu
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