Die Namen der Toten
unverkennbar Buchstaben.
S-I-G-B-E-R-T V-O-N T-I-S
»Sigbert von Tis?«
»Er ist noch nicht fertig«, sagte Josephus aufgeregt. »Schau: Sigbert von Tisbury.«
»Wieso kann der Junge schreiben?«, fragte Paulinus. Der Mönch war fast so weiß geworden wie der Schnee und zitterte vor Furcht.
»Ich weiß es nicht«, sagte Josephus. »Niemand im Dorf kann lesen oder schreiben. Die Schwestern haben es ihm bestimmt nicht beigebracht. Sie halten ihn sogar für schwachsinnig.«
Der Junge war immer noch mit seinem Stock am Werk.
18 12 782 Natus
Paulinus bekreuzigte sich. »Mein Gott! Er schreibt sogar Ziffern! Der achtzehnte Tag des zwölften Monats im Jahr des Herrn 782. Das ist heute!«
»Natus«, flüsterte Josephus. »Geburt.«
Paulinus stampfte mit den Füßen durch die Zeichen im Schnee, zertrat die Ziffern und Lettern. »Bring ihn zu mir!«
Sie warteten, bis die Mönche aus dem Skriptorium zur Messe gegangen waren, und setzten den Jungen dann an einen der Kopistentische.
Paulinus legte ein Stück Pergament vor ihn hin und reichte ihm einen Federkiel. Octavus fuhr augenblicklich mit der Feder über das Pergament und schien sich überhaupt nicht daran zu stören, dass nichts zu sehen war. »Nein!«, rief Paulinus. »Warte! Pass auf.« Er tauchte den Federkiel in einen Keramiktopf mit Tinte und gab ihn zurück. Der Junge kratzte erneut auf dem Pergament, aber dieses Mal war etwas zu sehen. Offenbar nahm Octavus die kleinen schwarzen Buchstaben wahr, die er malte, denn ein gutturaler Laut drang aus seiner Kehle. Es war der erste Ton, den er jemals von sich gegeben hatte.
Cedric von York 18 12 782 Mors
»Wieder ein Datum. Wieder der heutige Tag«, murmelte Paulinus. »Aber jetzt schreibt er Mors. Tod.«
»Das ist bestimmt Hexerei«, rief Josephus und wich zurück, bis er mit dem Hintern an einen anderen Kopistentisch stieß.
Die Tinte ging aus, worauf Paulinus die Hand des Jungen führte und ihn den Federkiel selbst eintauchen ließ. Mit ausdrucksloser Miene fing Octavus wieder an zu schreiben, doch er begann mit unverständlichen Zeichen.
18 12 782 Natus
Die Männer schüttelten verständnislos den Kopf. »Das sind keine gewöhnlichen Buchstaben, aber hier steht wieder das Datum.«
Josephus riss sich los, als ihm mit einem Mal klarwurde, dass sie zu spät zur Messe kommen würden, eine unverzeihliche Sünde. »Versteck das Pergament und die Tinte und lass den Jungen da drüben in der Ecke sitzen. Komm, Paulinus, wir wollen rasch ins Sanktuarium gehen und zu Gott beten, damit er uns verstehen hilft, was wir gesehen haben, und ihn bitten, uns von allem Übel zu befreien.«
In dieser Nacht trafen sich Josephus und Paulinus in der eiskalten Brauerei und zündeten eine dicke Kerze an. Josephus hatte das Gefühl, dass er ein Ale brauchte, um sich zu beruhigen und seinem Magen etwas Gutes zu tun, und Paulinus war bereit, sich dem Wunsch des alten Freundes zu fügen. Sie zogen ihre beiden Stühle so dicht zusammen, dass ihre Knie fast aneinanderstießen.
Josephus hielt sich für einen einfachen Mann, der sich lediglich mit der Liebe Gottes und den Regeln des heiligen Benedikt von Nursia auskannte, die alle Diener des Herrn einhalten mussten. Er wusste jedoch, dass Paulinus ein kluger Mann und Gelehrter war, der viele Texte gelesen hatte, in denen es um die unterschiedlichsten Dinge zwischen Himmel und Erde ging. Wenn jemand erklären konnte, was sie heute Morgen gesehen hatten, dann war es Paulinus.
Doch Paulinus wollte keine Erklärung abgeben. Stattdessen unterbreitete er Josephus einen Vorschlag, und die beiden Männer dachten darüber nach, wie er sich am besten ausführen ließe. Sie kamen überein, ihr Wissen um den Jungen geheim zu halten, denn was nützte es schon, wenn sie die ganze Gemeinschaft in Aufruhr versetzten, bevor Paulinus die Wahrheit herausfand?
Als Josephus den letzten Schluck Ale getrunken hatte, griff Paulinus nach der Kerze. Kurz bevor er sie ausblies, gab er Josephus einen Gedanken weiter, der ihm gerade durch den Kopf gegangen war.
»Weißt du«, sagte er, »nirgendwo steht geschrieben, dass bei der Geburt von Zwillingen das erste Kind, das die Frau zur Welt bringt, auch das sein muss, das sie durch Gottes Gnade als erstes empfangen hat. Octavus könnte also in Wahrheit ebenso gut Ubertus’ siebter Sohn sein.«
Ubertus ritt durch Wessex, um den Auftrag auszuführen, zu dem Prior Josephus ihn gedrängt hatte. Er hielt sich nicht für den richtigen Mann für diese Aufgabe,
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