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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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Fleischeslust gefrönt werde, und er hörte geduldig zu, seufzte vor sich hin und besprach die Angelegenheit später mit Josephus. Oswyns unheilbares Rückenleiden behinderte ihn, und er litt ständig Schmerzen. Schwester Magdalenas Beschwerden über den Verbrauch an Ale oder die lüsternen Blicke, die, wie sie glaubte, ihren jungfräulichen Schutzbefohlenen galten, trugen ein Übriges zum Unbehagen des Abts bei. Er verließ sich darauf, dass sich Josephus um diese weltlichen Angelegenheiten kümmerte, damit er selbst sich ganz dem Ruhme Gottes widmen und ihm dienen konnte, indem er dafür sorgte, dass der Umbau der Abtei zu seinen Lebzeiten vollendet wurde.
    Magdalena war dafür bekannt, dass sie Kinder nicht mochte. Die schamlosen Vorgänge bei ihrer Zeugung stießen sie ab, und sie fand sie allesamt viel zu bedürftig. Sie verachtete Josephus dafür, dass er ihnen in Vectis Zuflucht gewährte, vor allem den ganz kleinen und behinderten. Sie hatte neun Kinder unter zehn Jahren in ihrer Obhut und war der Meinung, dass sie nicht genug taten, um sich ihr täglich Brot zu verdienen. Sie hielt die Schwestern dazu an, sie schwer arbeiten zu lassen, sie holten Wasser und Feuerholz, wuschen Teller und Geschirr oder stopften Matratzen mit frischem Stroh aus, damit sich keine Läuse einnisteten. Wenn sie älter waren, hatten sie noch ausreichend Zeit für religiöse Studien, doch solange man sie nur mit Plackerei zähmen konnte, taugten sie lediglich zu einfacher, harter Arbeit.
    Octavus, Josephus’ jüngste Fehlentscheidung, trieb sie fast zur Weißglut.
    Der Junge konnte nicht einmal die einfachsten Anweisungen ausführen. Er weigerte sich, einen Topf zu leeren oder Holz ins Küchenfeuer zu werfen. Er ging erst zu Bett, wenn man ihn hinschleifte, und stand nicht auf, es sei denn, man zerrte ihn von seinem Strohsack. Die anderen Kinder lachten über ihn und verspotteten ihn. Zuerst dachte Magdalena, er wäre trotzig, und prügelte ihn mit dem Stock, doch mit der Zeit wurde sie der körperlichen Züchtigung überdrüssig, da sie keinerlei Wirkung zeitigte, ihm nicht einmal einen Schrei oder ein Winseln entlockte. Und wenn sie fertig war, holte sich der Junge einfach ihren Stock vom Holzstoß und kratzte damit Muster in den Erdboden der Küche.
    Jetzt, da der Herbst in den Winter überging, schenkte sie dem Jungen keinerlei Beachtung mehr und überließ ihn einfach sich selbst. Glücklicherweise aß er wie ein Spatz und kostete sie nicht viele Vorräte.
     
    An einem kalten Dezembermorgen verließ Josephus das Skriptorium, um zur Messe zu gehen. Über Nacht war der erste Wintersturm über die Insel gefegt und hatte eine Schneedecke hinterlassen, die so hell funkelte, dass ihm die Augen brannten. Er rieb die Hände aneinander, um sie zu wärmen, und lief rasch den Weg entlang, damit seine Zehen nicht taub wurden.
    Octavus hockte barfuß und in seiner dünnen Kleidung neben dem Weg. Josephus sah ihn oft auf dem Klostergelände. Gewöhnlich hielt er inne, fasste den Jungen an der Schulter und sprach ein kurzes Gebet, auf dass sein Gebrechen geheilt werden möge, und ging dann rasch seiner Wege. Doch heute befürchtete er, der Junge könnte erfrieren, wenn sich niemand um ihn kümmerte. Er blickte sich nach einer der Schwestern um, aber es war keine in Sichtweite.
    »Octavus!«, rief Josephus. »Komm herein! Du darfst nicht ohne Schuhe in den Schnee gehen!«
    Der Junge hatte einen Stock in der Hand und zeichnete wie gewöhnlich Muster, aber dieses Mal wirkte sein normalerweise ausdrucksloses, zartes Gesicht leicht erregt. Der Schnee hatte ihm eine riesige, unberührte Fläche beschert, in die er seine Muster kratzen konnte.
    Josephus stand neben ihm und wollte Octavus gerade hochheben, als er plötzlich innehielt und aufkeuchte.
    Das kann doch nicht sein!
    Er schirmte seine Augen gegen das gleißende Licht ab und überzeugte sich davon, dass er richtig gesehen hatte.
    Darauf eilte er ins Skriptorium und kehrte kurz darauf mit dem schmächtigen Paulinus zurück, den er trotz heftiger Proteste aufgeregt am Ärmel zerrte.
    »Was ist denn, Josephus?«, rief Paulinus. »Warum sagst du mir nicht, worum es geht?«
    »Schau!«, antwortete Josephus. »Sag mir, was du siehst.«
    Octavus war immer noch mit seinem Stock im Schnee beschäftigt. Die beiden Männer stellten sich neben ihn und musterten seine Krakeleien.
    »Das kann nicht sein!«, keuchte Paulinus.
    »Aber genau so ist es«, versetzte Josephus.
    Im Schnee standen Buchstaben,

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