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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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kräuselte.
    Josephus hatte schon von Octavus gehört, aber er hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Er fand den Anblick des Jungen beunruhigend. Er hatte etwas Kaltes, Wahnhaftes an sich, als hätte er in seinem jungen Leben noch nie die Wärme Gottes erfahren. Seinen Namen, Octavus der Achte, hatte er in der Nacht seiner Geburt von Ubertus erhalten. Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder, einem Scheusal, das man besser vernichtete, würde er ein glückliches und normales Leben führen, nicht wahr? Immerhin war der achte Sohn eines siebten Sohnes nichts als ein weiterer Sohn, auch wenn er am siebten Tag des siebten Monats im siebenhundertsiebenundsiebzigsten Jahr nach der Geburt des Herrn zur Welt gekommen war. Ubertus hatte gebetet, dass er stark und fleißig werden möge, ein Steinmetz wie sein Vater und seine Brüder. Vergeblich.
    »Warum hast du ihn hergebracht?«
    »Ich will, dass du ihn zu dir nimmst.«
    »Warum sollte ich deinen Sohn zu mir nehmen?«
    »Ich kann ihn nicht mehr bei mir behalten.«
    »Aber du hast Töchter, die sich um ihn kümmern können. Du hast Essen auf deinem Tisch.«
    »Er braucht Christus. Christus ist hier.«
    »Christus ist überall.«
    »Aber nirgendwo so sehr wie hier, Prior.«
    Der Junge kniete sich hin und drückte seinen knochigen Zeigefinger in die Erde. Er bewegte ihn in kleinen Kreisen und zeichnete Muster, aber sein Vater griff nach unten und zerrte das Kind an den Haaren wieder hoch. Der Junge zuckte zusammen, gab jedoch keinen Laut von sich, obwohl Ubertus ihn kräftig gepackt hielt.
    »Der Junge braucht Christus«, wiederholte sein Vater. »Ich möchte, dass er sich einem Leben im Glauben widmet.«
    Josephus hatte reden hören, dass der Junge stumm sei, offenbar in seine eigene Welt versunken, ohne jedes Interesse an seinen Brüdern und Schwestern oder irgendeinem anderen Kind in der Ortschaft. Er hatte eine Amme gehabt, aber nur wenig Nahrung zu sich genommen, und auch jetzt noch, mit fünf Jahren, aß er ohne großen Appetit. Im Grunde wunderte sich Josephus nicht darüber, was aus dem Jungen geworden war. Schließlich hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie dieses Kind zur Welt gekommen war.
    Das Kloster hatte immer wieder Kinder aufgenommen, obwohl das nicht gern gesehen wurde, weil sie eine Belastung waren und die Schwestern von anderen Aufgaben ablenkten. Die Dorfbewohner versuchten vor allem, geistig und körperlich behinderte Kinder am Tor abzugeben. Wenn es nach Schwester Magdalena ginge, würden sie alle abgewiesen, aber Josephus hatte eine Schwäche für die Unglücklichsten unter Gottes Geschöpfen.
    Doch dieses Kind beunruhigte ihn.
    »Junge, kannst du sprechen?«, fragte Josephus.
    Octavus beachtete ihn nicht, sondern starrte zu Boden, auf die Muster, die er gezeichnet hatte.
    »Er kann nicht sprechen«, sagte Ubertus.
    Behutsam fasste Josephus den Jungen unters Kinn und hob sein Gesicht an. »Bist du hungrig?«
    Der Blick des Jungen schweifte ab.
    »Kennst du Christus, deinen Heiland?«
    Josephus sah nicht die geringste Regung, die darauf hindeutete, dass ihm der Name etwas sagte. Octavus’ bleiches Gesicht war völlig ausdruckslos, eine Tabula rasa.
    »Nimmst du ihn, Prior?«, bat Ubertus.
    Josephus ließ das Kinn des Knaben los, worauf der Junge zu Boden sank und mit seinem schmutzigen Finger wieder Muster in den Sand malte.
    Tränen rannen über Ubertus’ kantiges Gesicht. »Bitte, ich flehe dich an.«
     
    Schwester Magdalena war eine strenge Frau, die man noch nie hatte lächeln sehen, nicht einmal, wenn sie das Psalterium spielte und himmlische Musik machte. Sie war im fünften Jahrzehnt ihres Lebens und hatte die Hälfte davon innerhalb der Klostermauern verbracht. Unter ihrem Schleier befanden sich graue Zöpfe, unter ihrem Habit ein zäher, jungfräulicher Leib, so unnachgiebig wie eine Nussschale. Sie war nicht ohne Ehrgeiz und wusste sehr wohl, dass eine Frau im Orden des heiligen Benedikt Äbtissin werden konnte, wenn es dem Bischof gefiel. Als älteste Nonne in Vectis käme sie dafür durchaus in Frage, doch Aetia, der Bischof von Dorchester, nahm sie kaum zur Kenntnis, wenn er an Ostern und Weihnachten zu Besuch weilte. Sie glaubte fest, dass ihre heimliche Überzeugung, sie könnte das Kloster besser leiten, keinem Dünkel, sondern allein dem Wunsch entsprang, die Abtei möge reiner und leistungsfähiger werden.
    Sie wandte sich oft an Oswyn und berichtete ihm von ihrem Argwohn, dass in Vectis der Völlerei, der Ausschweifung und sogar der

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