Die Namen der Toten
keine Geheimnisse vorenthalten. Er muss von dieser Sache erfahren, und er, er allein, muss über das Schicksal des Jungen befinden.«
Sie war fest entschlossen, und weder Paulinus noch Josephus wollten ihr Einhalt gebieten.
Die drei sprachen Oswyn nach der None an, dem Nachmittagsgebet, und begleiteten ihn in seine Kammer hinter dem Kapitelsaal. Dort, im schwindenden Licht des Winternachmittags und dem Glutschein des Feuers, erzählten sie ihm ihre Geschichte und versuchten seine verkniffene Miene zu deuten, doch sein Gesicht war aufgrund seiner Rückgratverkrümmung tief über den Tisch gebeugt.
Er hörte sich alles an. Dann betrachtete er die Pergamente und hielt kurz inne, als er auf seinen Namen stieß. Er stellte Fragen und dachte über die Antworten nach. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch, zum Zeichen dafür, dass er zu einem Urteil gekommen war.
»Ich kann nicht erkennen, dass dabei etwas Gutes herauskommen soll«, sagte er. »Im schlimmsten Fall hat der Teufel die Hand im Spiel. Im besten Fall stört es die Gemeinschaft in der Ausübung ihrer Glaubenspflichten. Wir sind hier, um Gott mit unserem ganzen Herzen und all unserer Kraft zu dienen. Dieser Junge lenkt uns von unserem Auftrag ab. Ihr müsst ihn verstoßen.«
Schwester Magdalena konnte ihre Zufriedenheit kaum verhehlen.
Josephus räusperte sich. »Sein Vater wird ihn nicht wieder zu sich nehmen. Er kann nirgendwo hingehen.«
»Das ist nicht unsere Sorge«, sagte der Abt. »Schickt ihn weg.«
»Es ist kalt«, wandte Josephus ein. »Er wird die Nacht nicht überleben.«
»Der Herr wird für ihn sorgen und über sein Schicksal entscheiden«, sagte der Abt. »Und jetzt lasst mich allein, damit ich über meines nachdenken kann.«
Josephus musste die Entscheidung in die Tat umsetzen, und so nahm er den Jungen nach Sonnenuntergang pflichtgetreu an der Hand und führte ihn zum Tor der Abtei. Eine gutherzige Schwester hatte ihm dicke Socken angezogen und ihn in ein zusätzliches Hemd und einen kleinen Umhang gehüllt. Ein schneidender Wind pfiff über die See und ließ die Temperatur auf den Gefrierpunkt sinken.
Josephus entriegelte das Tor und zog es auf. Eine heftige, eiskalte Bö schlug ihnen ins Gesicht. Behutsam schob der Prior den Jungen vorwärts. »Du musst uns verlassen, Octavus. Hab keine Angst, Gott wird dich behüten.«
Ohne sich noch einmal umzudrehen und einen Blick zurückzuwerfen, starrte Octavus mit ausdrucksloser Miene in die Nacht hinaus. Es brach dem Prior fast das Herz, ein Geschöpf Gottes so grausam zu behandeln, denn ihm war bewusst, dass er das Kind sehr wahrscheinlich dem Erfrierungstod überantwortete. Und es war kein gewöhnliches Kind, sondern eines mit einer außergewöhnlichen Gabe, die, wenn Paulinus recht hatte, nicht aus dem Schlund der Hölle stammte, sondern aus dem Himmelreich. Doch Josephus war ein gehorsamer Diener, der in erster Linie seinem Herrn und Gott Gefolgschaft schuldete, dessen Wille in dieser Angelegenheit Josephus aber verborgen blieb, und danach schuldete er dem Abt Gefolgschaft, und dessen Haltung war eindeutig.
Josephus erschauerte und schloss das Tor hinter Octavus.
Die Glocke läutete zur Vesper, worauf sich die Gemeinschaft im Sanktuarium versammelte. Schwester Magdalena hatte ihr Psalterium auf dem Schoß und genoss sichtlich den Triumph über Josephus, dessen Sanftmut sie verachtete.
Paulinus ließ sich unterschiedliche theologische Lehrmeinungen durch den Kopf gehen – er suchte nach einem klaren Hinweis darauf, ob Octavus’ Kräfte eine Gabe waren oder ein Fluch.
Josephus brannten die Augen vor Tränen, wenn er an den schmächtigen kleinen Jungen dachte, der allein dort draußen in der Kälte und Dunkelheit war. Schuldgefühle nagten an ihm, weil er es so warm und behaglich hatte. Doch Oswyn, davon war Josephus überzeugt, hatte jedenfalls in einem recht: Der Junge lenkte sie tatsächlich von ihren Gebeten und anderen Pflichten im Dienste Gottes ab.
Sie warteten auf die schleppenden Schritte des Abts, doch alles blieb still. Josephus sah die Brüder und Schwestern unruhig von einem Bein aufs andere treten, wussten sie doch genau, wie viel Wert der Abt auf Pünktlichkeit legte.
Nach einigen Minuten begann Josephus sich Sorgen zu machen und flüsterte Paulinus zu: »Wir müssen nach dem Abt sehen.« Die Blicke aller folgten ihnen, als sie das Sanktuarium verließen. Leises Getuschel erhob sich, doch Schwester Magdalena legte den Finger an den Mund und brachte die
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