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Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Harman
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ledernen Eimer und sauste los, rannte über den Hof und warf dabei die Beine so wild, daß die Knie fast an die Ellbogen stießen.
    Doch genau in diesem Moment lenkte der Knall einer gewaltigen Explosion die Aufmerksamkeit der Menge von dem spurtenden Brandpropheten ab und wieder auf die Scheune: Eine Melone, groß wie ein übergewichtiger Basset, raste wie eine Rakete mit rotglühendem Jetstrahl aus den Restbeständen des Scheunendachs. Wie gebannt starrten alle auf die Düsenfrucht, die in einem weitgespannten Bogen über den blauen Himmel zog, eine perfekte Parabel beschrieb und schließlich haargenau im Dach des Großen Gemeindetempels einschlug. Jedem stockte vor Entsetzen der Atem, jedem wurde schlagartig entsetzlich klar, welche gewaltigen Schäden diese Menge brennenden Melonenalkohols an dem von der Sonne gedörrten alterschwachen Dach anrichten würde. Die Löscharbeiten würden sich bestimmt über mehrere Tage hinziehen, die Reparatur über mehrere Monate, das Abstottern der anfallenden Kosten über Jahre …
    Die Bomberfrucht erreichte den Zenit ihrer Flugbahn, behielt diese Höhe einen Wimpernschlag lang bei und stürzte dann heulend und pfeifend wie verderbliches Fallobst vom Himmel. Die Menschenmenge konnte nur hilflos zusehen, konnte nur ohnmächtig den unvermeidlichen Einschlag abwarten, konnte sich nicht losreißen von dem Anblick, der sich ihr bot. Nur wenige Sekunden noch, dann wäre ihr prächtiges Kulturzentrum zerstört … Die für kommende Woche angesetzte Pantomime ›Wie ich lernte, die Bombe zu lieben‹ müßte wohl ausfallen. Man konnte überhaupt nichts mehr tun, wenn nicht …
    Die flambierte Melone stürzte unaufhaltsam auf den Tempel nieder … Nur zwanzig Fuß noch, dann würde sie einschlagen … Plötzlich flog die kleine Falltür einer Ausstiegsluke auf, und eine winzige Gestalt sprang aufs Dach. Die Menge hielt erschrocken den Atem an. Wer war dieser Mann mit der prächtigen Schildkappe? Und was schleppte er da mit sich? Er rannte über das steile Dach, setzte wie ein Hürdenläufer über diverse Regenrinnen, sprang über im Weg liegende Dachfenster und – rutschte aus.
    Eine Hundertschaft Hände flog erschrocken an offene Münder, die Menge stieß einen Schrei aus und wandte erschüttert den Blick ab.
    »Da ist er!« schrie ein eifriger Zuschauer und zeigte aufs Dach: Der Mann schlitterte eben zwischen zwei Türmchen dachabwärts, hatte die Arme krampfhaft ausgestreckt und hielt irgend etwas in den Händen.
    Die Melone knatterte unaufhaltsam auf das Tempeldach zu. Noch zehn Fuß.
    Der Mann rutsche weiter, war jetzt nur noch wenige Fuß von der voraussichtlichen Einschlagstelle entfernt. Aber der Abstand verringerte sich schnell: Der Mann strampelte und beschleunigte.
    Sprudelnd und brodelnd, einen alkoholgesättigten Kondensstreifen hinter sich herziehend, so raste die Melone heulend nach unten und fraß die noch verbliebene Strecke (nur mehr fünf Fuß!) mit unersättlicher Gier. Jetzt nur noch zwei Fuß: Lüstern leckten lodernde Flammenzungen voll pyromanischer Vorfreude. Dann schlug sie ein.
    Und landete, eine gewaltige Dampfwolke verpuffend, im altbewährten Wasserkübel von Minimax Plansch, der Kopf voran und schreiend das Tempeldach hinunterratterte und sich auf diese Weise endgültig für die Sache der Feuerverhütung aufopferte. So fest hielt er den Henkel des Eimers, daß sich seine Fingerknöchel weiß verfärbten, so besessen klammerte er sich an die vergorene Pulpe, als könnte nur sie ihm noch das Leben retten. Fünfzehn Fuß voraus sah er die goldenen Schmuckziegel an der Kante des Tempeldachs, und dahinter, sechzig Fuß in Fallinie nach unten, gab es nur noch beinharten, von der Sonne getrockneten Lehmboden. Wenn er Glück hatte, wurde er ohnmächtig, bevor er auf diesem Boden …
    Kurze Passagen seines Leben sah er aufblinken, weit zurückliegende Erlebnisse, ferne Erinnerungen. Er versuchte sie zu verdrängen. Versuchte es mit aller Macht, weil er die irrwitzige Hoffnung nicht aufgeben wollte, daß dann, wenn das Leben nicht wie im Zeitraffer vor seinem geistigen Auge vorüberziehen würde – daß er dann möglicherweise (eine irrwitzige Hoffnung, wie gesagt) nicht stürzen und …
    Zu spät: Schon hatte es die letzten fünfzehn Fuß Tempeldach unter ihm weggerissen. Mit panischen Gebrüll, ganz so, wie er die unwiderruflich letzten Sekunden seines Lebens nicht hatte gestalten wollen, segelte er über die Horizontlinie hinaus und wurde noch im selben

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