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Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Harman
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Augenblick von den unbezwingbaren Kräften der Gravitation erfaßt. Der Boden raste auf ihn zu: Schnell, sehr schnell, dann noch schneller – er schien es gar nicht erwarten zu können, die Sache zu Ende zu bringen. Entmutigt zwickte Minimax die Augen zusammen, schrie und schlug auf (nachdem er sich kurz noch mit der Frage beschäftigt hatte, wer wohl seine Nachfolge antreten würde).
    Durch einen sechzig Fuß tiefen Sturz vom Dach zu Tode zu kommen, war eigentlich gar nicht so unangenehm, wie er sich das vorgestellt hatte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es hatte ihm tatsächlich sogar Spaß gemacht. Panische Angst zu erleben, das war eine geradezu faszinierende Erfahrung gewesen, der durch Schwindel und Höhenangst ausgelöste Adrenalinstoß äußerst erfrischend, der Auf- und Rückprall ganz zum Schluß … Nun, er bedauerte fast, daß es ihm nicht möglich sein würde, das noch einmal zu erleben. Und noch etwas bedauerte er: Der Esel … er würde ihm fehlen. Ganz bestimmt.
    »… gehört, was ich gesagt habe? Alles in Ordnung?« Die Stimme klang gedämpft. »Können Sie mich hören?«
    Dann legte sich eine Hand auf seine Schulter und schüttelte ihn leicht. Minimax riß erschrocken die Augen auf und starrte auf den riesigen Bau des Gemeindetempels. Von ganz oben und Kopf voran hat er noch viel größer gewirkt, dachte er benommen.
    »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte der Mann, der eine weiße Uniform und die dazu passende Kappe trug.
    Allmählich dämmerte es Minimax, daß er möglicherweise doch nicht ganz so dahingeschieden war, wie er zunächst vermutet hatte. »Was zum …?« krächzte er.
    »Scheußlicher Sturz, den Sie dann hatten«, sagte der Uniformierte. »Können von Glück sagen, daß wir grade in der Nähe waren …«
    »Riesenmassel«, grunzte das andere Mitglied des Unfall- und Katastrophenvorhersehdienstes. »Wär nett von Ihnen, wenn Sie’s beim nächsten Mal vielleicht nicht ganz so knapp halten würden. Wenn wir nicht zufällig vorbeikommen wären, weil wir inner halben Stunde da oben ein paar Bergsteiger aus der Wand holen müssen, und wenn ich nicht dieses komische Milzstechen gekriegt hätte, wie’s immer kommt, wenn wo was anliegt … Mann! Ich darf gar nicht dran denken!«
    Minimax hockte auf einem Matratzenstapel, der auf die Ladefläche eines Karrens geschnallt war, und sah sich kopfschüttelnd um. Natürlich hatte er schon von den Unfall- und Katastrophenvorhersehern gehört – aber bis jetzt hatte er noch nie etwas mit ihnen zu tun gehabt. Es war ein geheimnisumwitterter Trupp: Immer dann, wenn irgendwo eine Katastrophe drohte, tauchte er im letzten Augenblick auf und war jedesmal genausoschnell wieder verschwunden. Man wußte kaum etwas über ihn, man kannte allenfalls sein Motto: ›Vorhersicht ist die Mutter der Porzellankiste‹.
    »Ich will Sie ja nicht drängen«, sagte einer von den Vorhersehern, »aber wenn Sie da oben fertig sind, dann … Tja also, wie gesagt: Es gibt noch ein paar Leute, die ganz froh wären, wenn sie in etwa fünfundzwanzig Minuten feststellen könnten, daß sie weich gelandet sind. Irgendwas mit einem Steigeisen, das abgegangen is, oder ein Haken, der inner falschen Felsspalte festklemmt, oder so was in der Richtung. Die genauen Einzelheiten kenn ich nicht, nur eben so viel, daß ein halbes Dutzend Bergsteiger auf einem Haufen am Fuß vonner Felswand lieg’n wird, wenn wir jetzt nicht ein Zahn zulegen, versteh’n Sie?«
    »Ich … äh … selbstverständlich«, sagte Minimax, hüpfte an den Matratzenrand, drehte sich um und sprang von dem Karren. Wie der Blitz sauste der Vorherseher los und kickte einen großen Stein aus dem Weg. »Na, na! Immer vorsichtig!« sagte er und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wir woll’n uns doch zum Abschluß nicht noch den Knöchel verrenken! Woll’n wir doch nicht, oder?«
    Dann salutierte er kurz, sprang auf den Karren, setzte sich neben seinen Kollegen, und ab ging’s im Galopp in die Berge.
    Minimax sah ihnen eine ganze Weile verwundert nach. So lange, bis ihm irgendwann auffiel, daß seine rechte Hand tropfnaß war – frisch eingespeichelt und triefend vor Eselsabber. Überrascht blickte er sich um, schrie »Dennis!« und wischte sich schleunigst die Hand an der Eselsmähne trocken. Wenn Dennis sich bloß endlich einmal angewöhnen könnte, seine Zuneigung auf eine andere, weniger feuchte Art auszudrücken!
    Erschüttert und ergriffen davon, was sich innerhalb der letzten wenigen Minuten ereignet

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