Die Nanowichte
Ohren vollzujammern: Bestechung mit Naturalien. Auch wenn die Eule damit nicht restlos umzustimmen war – mit vollem Schnabel konnte sie wenigstens nicht sprechen.
»Meine Güte! Bist du aber groß geworden!« verkündete Merlot und sah Hogshead bewundernd an.
»Wie bitte? Seit gestern?«
»Gestern?« grunzte Merlot und kratzte sich bekümmert den Kopf. »War’s wirklich erst gestern?«
Hogshead nickte und rückte auf seinem Baumstamm unruhig ein kleines Stück nach vorn. Er schwitzte. Sein heißes Geheimnis ging ihm sehr nahe.
»Welch ein Jammer«, sinnierte Merlot. »Kolossal verwirrende Angelegenheit, nicht wahr, die Sache mit der Zeit.« Neben all den unzähligen Geheimnissen, von denen Merlot umgeben war, geisterte vor allen Dingen ein Gerücht immer wieder durch die Welt: die Vermutung, daß er eigentlich rückwärts lebte und permanent gegen den Strom der Zeit schwamm, um wenigstens einigermaßen gegenwärtig zu erscheinen. Es war dies ein Gerücht, das er – wie er sich genau erinnerte – bei zahllosen zukünftigen Pressekonferenzen ganz entschieden dementiert hatte. Aber das eigentliche Problem war viel komplexer.
Merlot kam aus einer Region, die jenseits des wirbelnden Strudels des Raum-Seitlichen Kontinuums lag: aus der Region der Kapiteldimensionen. Grundlage des Lebens dort waren nicht die allseits bekannten Elemente Kohlenstoff und Sauerstoff, sondern die außerordentlich seltenen und unglaublich verworrenen Elemente Fikton und Literanium. Sie waren Bestandteil jener prologalen Ursuppe, in der sich Konsonanten, Vokale und Silben mit märchenhafter Unbekümmertheit vermischten und vermengten und so den weitverzweigten Stammbaum einer phantastisch vielseitigen Bibliographie pflanzten. In den Kapiteldimensionen tauchten Froschprinzen in einem fort nach verlorenen goldenen Bällen, entstanden zauberhafte Königreiche und vergingen wieder, leuchteten der Tod, der Hunger, die Pest und der Krieg ihren Gegnern bei den offenen Polomeisterschaften gewaltig heim.
Normalerweise jedenfalls; wenn sie sich blicken ließen.
Eines der größten Probleme der Kapiteldimensionen ist die fundamentale Nonkonformität jener Größe, die wir naiverweise ›Zeit‹ nennen. Dieses Problem existiert deswegen, wie manche glauben, weil der Raum in den Kapiteldimensionen aus einer Reihe ineinandergefalteter ebener Flächen besteht, die alle ihre eigene Zeit haben und nicht vollständig dicht oder abgeschlossen sind. Daher kann die Zeit, die in Wirklichkeit Teilchencharakter hat, durch diese Ebenen diffundieren und sich ziellos und ganz und gar willkürlich zwischen ihnen ausbreiten. Andere glauben, in den Kapiteldimensionen herrsche deswegen ein solches Durcheinander, weil sich noch nie einer die Mühe gemacht und die Armbanduhr erfunden hat.
»Also, für mich ist Zeit eigentlich eine ziemlich geradlinige Angelegenheit«, sagte Hogshead ein wenig vorschnell.
»Gewiß, gewiß.« Merlot grinste; die Naivität des Jungen amüsierte ihn. »Solange man sie nicht verplempert und auf tausenderlei triviale Beschäftigungen verschwendet, was?«
Hogshead sah zur Seite. »Tu ich nicht«, sagte er dann ein wenig leichtfertig.
»Und was, bitte schön, ist das dann dieses da, hmmm?« Merlot beugte sich vor, klemmte sich den Zauberstab unter den Arm und blickte vielsagend auf den flackernden Schmalzkringel, der majestätisch hinter Hogshead aufstieg.
»Mir war langweilig. Ich wollte etwas zum Spielen«, nuschelte Hogshead und verfärbte sich zartrosa.
»Zum Spielen? O nein, nein, nein! Wie oft muß ich dir das noch sagen? Magie ist eine ernsthafte Angelegenheit! Kein Karnevalsscherz!« Merlot machte auf dem Absatz kehrt, sein Mantel, der die Farbe von E-Dur hatte, schwang wirbelnd um seine Fußgelenke, hell blitzten und funkelten die Tierkreiszeichen, mit denen er geschmückt war, die Sterne, Monde und all die anderen wissenschaftlich erforschten astromagischen Zeichen. Und ein paar zusätzliche noch obendrein.
»Würde mir nie einfallen, Magie als Karnevalsunterhaltung zu betreiben«, antwortete der rundliche Jungmagier. Es klang fast so, als wolle er Merlot etwas abbetteln.
Der Zauberer fuhr herum und marschierte gebieterisch auf ihn los. »Genau das«, schnaubte er, und der nicht mehr ganz weiße Schnurrbart flatterte, »befürchte ich eben.«
»Du traust mir nicht, oder?« fauchte ihn der Junge wütend an.
»Bei Gott, jetzt hat er’s, was, Arbutus?« rief der Zauberer.
Der Waldkauz auf seiner Schulter öffnete ein
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