Die narzisstische Gesellschaft
tun gehabt. Frau S. beruhigte sich, konnte wieder durchatmen, blieb aber im Zweifel, ob sie die Anerkennung auch wirklich verdient habe. Erst als der Chef ihr übermittelte, dass eine größere Bestellung der präsentierten Produkte zu erwarten sei, konnte sie das Lob annehmen, musste aber öffentlich darauf hinweisen, dass sie ja nur präsentiert habe, was andere entworfen und hergestellt hatten.
Dies ist der «normale» Zustand von Frau S. Mit ihren Erfolgen bekämpft sie das Größenklein und mit ihren Skrupeln und Zweifeln verhindert sie eine pathologische Karriere im falschen Leben eines Größenselbst.
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5 Die narzisstische Störung als Basis der narzisstischen Gesellschaft
Die narzisstische Störung, die ich hier in den Blick nehme, betrifft nicht nur die extremen Größenselbst-Narzissten, die durch ihre Angeberei, ihre Großspurigkeit und ihren unbedingten Willen zur Dominanz sofort auffallen und als Gewinner, als Führungskräfte und «Salonlöwen» so erfolgreich sind. Ich meine auch nicht allein die im Größenklein chronifizierten Narzissten, die mit ihrem Gequältsein und Jammern lästig fallen und als Loser und Selbstbeschuldiger das Unglück kultivieren. Ich spreche auch von der großen Zahl von Menschen, die gut angepasst an die Verhältnisse und Erwartungen ihrer Umwelt relativ unauffällig, eigentlich normal und ganz anständig leben und gemessen am Zeitgeist sich auch als erfolgreich einschätzen können – obwohl sie mit einem schwachen und brüchigen Selbst von sich selbst entfremdet leben.
Wichtig und angesehen zu sein, gute Leistungen zu erbringen oder auch mal verzagt sein zu dürfen, leidvoll seine Grenzen zu erleben und über sich und andere zu klagen – dies alles sind ganz normale Bedürfnisse und Verhaltensweisen, die natürlich nicht automatisch auf narzisstische Störungen hinweisen. Die Grenzen zwischen «noch normal» und «schon pathologisch» sind fließend, und durch das, was «alle» machen, ist ihre Bewertung verzerrt. So kann die Mehrheit einer Bevölkerung extrem selbstentfremdet und hochpathologisch leben, ohne dass das wahrgenommen wird, weil eben «alle» so sind. Der eine hingegen, der authentisch lebt, sich selbst gut verwirklicht und Begrenzungen akzeptiert, die Realität erkennt und der Wahrheit nahe ist, wird abgelehnt, verfolgt und womöglich aus der Gemeinschaft entfernt. Eine solche Dynamik war kürzlich zu beobachten, als der Bundestagsabgeordnete der CDU Wolfgang Bosbach sich eine eigene, von der CDU -Fraktion abweichende Meinung zum sogenannten Euro-Rettungsschirm erlaubte. Er tat, was er tun musste: seine Meinung sagen, seiner Überzeugung folgen, und entlarvte allein schon dadurch das böse Spiel der narzisstischen Kompensation und Abwehr im politischen Geschäft. Der Kanzleramtsminister Profalla verlor alle Contenance («Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen») und gab auf diese Weise dem Bedrohungsgefühl Ausdruck, das aufkommt, wenn nur einer die kollektive Verleugnung aufkündigt. Mir wird «angst und bange», wenn ich sehe, wie stark unsere Demokratie im Spinnennetz narzisstischer Verstrickungen ihrer Akteure gefangen ist.
Als Ostdeutscher erschrecke ich, wenn ich in der demokratischen Gesellschaft eine fast totalitäre Meinungsherrschaft feststellen muss, wenn Abweichler vom Mainstream der gesellschaftlich opportunen Position (z.B. Eva Herman, Thilo Sarrazin, Günter Grass) medial gehetzt und abserviert werden und sehr viele Menschen einfach nur nachplappern, was vorgegeben wird, ohne sich mit den Inhalten Andersdenkender ernsthaft auseinandergesetzt zu haben. Wie groß muss der Bedarf an verfolgungsfähigen Sündenböcken sein, an deren Abwertung man sich narzisstisch aufbauen kann im vermeintlichen Glauben, doch auf der richtigen Seite zu stehen. Dabei verrät die kollektive Abwehrfront, dass etwas angesprochen ist, dessen Wahrheit unangenehm sein könnte und mithin die eigene narzisstische Kompensation in Frage stellen würde.
Manche leben ausschließlich davon, sich über andere Menschen aufzuregen, ihnen Schlechtes nachzusagen, sie zu beschimpfen und lächerlich zu machen. Dabei spielt mittlerweile auch das Internet eine unheilvolle Rolle. Mediale Distanz und Anonymität stellen offenbar eine große Verlockung dar, die eigene seelische Verletzung projektiv an andere weiterzugeben. Kein Mensch hätte Interesse, andere zu verfolgen und schlechtzumachen, wenn er nicht selbst auf narzisstischer Kränkungswut wie auf einem Pulverfass
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