Die narzisstische Gesellschaft
sitzen würde. Die Verleumdung gelingt am besten, wenn man den «Sündenbock» gar nicht persönlich kennt. Achten Sie einmal darauf, wie häufig über andere abwertend geredet und über die Verhältnisse geklagt wird – das ist Alltagskommunikation zur permanenten Abwehr der eigenen narzisstischen Verletzungen. Wenn andere «schlecht» sind, ist man automatisch relativ «besser», das gehört zur notwendigen Regulation des Selbstwertes, ermöglicht aber gerade keine Befreiung. Das erlittene Böse wird lediglich destruktiv ausagiert und weitergegeben. Und wenn man kein solches Ventil findet oder es sich aus moralischen Gründen versagt, dann ist man in großer Gefahr, die aufgestauten Affekte gegen sich selbst zu richten, etwa in Gestalt psychischer oder psychosomatischer Erkrankungen.
Die Tragik und Gefährlichkeit des destruktiven Verhaltens gegen andere oder gegen sich selbst liegt darin, dass es als «normal» und «richtig» erlebt wird, weil «alle» es so machen. Die eigene Selbstentfremdung ist im kultivierten «falschen» Leben nicht mehr erkennbar. Was man spricht und tut, wird von vielen anderen bestätigt und so auch für wahr und richtig gehalten. Mit rationalisierenden Argumenten werden das Fehlverhalten und die Verzerrung der Realität begründet und gerechtfertigt sowie entsprechend beklatscht. Langer Applaus setzt sich immer dem Verdacht aus, dass es nicht um reale Inhalte, sondern um versteckte Motive und Bedürfnisse geht. Die Delegierten eines Parteitages wissen offensichtlich nicht, wie sehr ihr minutenlanger Beifall nur ihr narzisstisches Bedürfnis verrät, einem Größenselbst zu huldigen, um sich selbst kollusiv im Größenklein zu sichern. Wird ein Künstler mit lang anhaltendem Beifall zu Zugaben genötigt, meint das nicht allein seine Kunstfertigkeit, sondern bringt ebenso die narzisstische Bedürftigkeit des Publikums zum Ausdruck, die unendliches «Stillen» verlangt und deshalb den Star nach anstrengender Leistung nicht dankbar von der Bühne abtreten lässt.
Die Basis einer Gesellschaft wird von den vorherrschenden Überzeugungen, Meinungen, Regeln, Traditionen, Werten und Ritualen geprägt, die von der Mehrheit der Bevölkerung vertreten, gepflegt und ausgestaltet oder zumindest toleriert werden. Natürlich spielen dabei politische, soziale und ökonomische Verhältnisse eine wesentliche Rolle. In der Gegenwart werden häufig «die Märkte» angeführt, die zu beachten und von denen wir abhängig seien, die sozusagen unser Leben dirigieren. Dabei bleibt verschleiert, wer eigentlich «die Märkte» sind. Wir sind es, die Menschen, mit unseren Wünschen und Bedürfnissen und unserem Verhalten. Ebenso wenig können wir die gesellschaftlichen «Verhältnisse» für etwas verantwortlich machen, wenn wir nicht die psychosozialen Voraussetzungen bedenken, aus denen heraus Menschen handeln. Die Projektion auf abstrakte Begriffe ist die geläufigste Abwehr seelischer Probleme, um «etwas» beschuldigen zu können und selbst exkulpiert zu sein oder sich gar nur als Opfer zu verstehen.
Bereits Freud hatte mit der Erkenntnis, dass «das Ich nicht Herr im eigenen Hause» ist, auf die unbewussten Hintergründe des menschlichen Verhaltens aufmerksam gemacht: dass das, was man bewusst denkt, sagt und tut, nur eine aufgesetzte Maske oder ein angelerntes Verhalten ist, nicht aber das Abbild der tiefen seelischen Wahrheit. Das war und ist für die meisten Menschen so unerträglich ernüchternd, so kränkend, dass es einfach nicht wahr sein darf. Dass man sich im «falschen Leben» bewegt, an dem man mit so viel Eifer und Überzeugung gebaut hat – diese Erkenntnis lässt die narzisstische Abwehr auf keinen Fall zu. Die mühevoll errungenen Lebenserfolge und die Anpassung an die gesellschaftlichen Bedingungen dienen vor allem der Kompensation narzisstischer Defizite. Deshalb muss man ein «gutes Leben» notfalls herbeireden, sich selbst suggerieren und nach außen überzeugend vertreten. Deshalb ist es so wichtig, das mitzumachen, was «alle» machen, dazuzugehören und dabei kleine Erfolge zu feiern, wenigstens aber nicht negativ aufzufallen, nicht abzuweichen; denn dadurch könnte die frühe narzisstische Verletzung wieder spürbar werden.
So wird die Abwehr der narzisstischen Verletzungen zur Basis gesellschaftlicher Strukturen. Sie erzwingt im Grunde massenpsychologische Prozesse, denn nur im Mitmachen, Dazugehören und durch äußere Anerkennung und Bestätigung bleibt die narzisstische
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