Die narzisstische Gesellschaft
antifaschistischen Tradition und der angeblich angestrebten friedlichen und sozial gerechten Zukunft. Das hat lange die Kollusion zwischen einer peinlichen Obrigkeit und willfährigen Jublern ermöglicht, bis die Utopie vom besseren Leben an der materialisierten Überlegenheit des Westens kollabierte. Das System ist nicht durch eine «friedliche Revolution» abgeschafft worden. Vielmehr ist die narzisstische Kollusion zwischen der Partei und ihren Mitläufern mit der Suggestion einer besseren Zukunft an der Realität zerbrochen. Dabei musste die illusionäre Hoffnung auf ein besseres Leben nicht einmal aufgegeben werden, sondern es wurden nur die Fahnen gewechselt. Einer neuen Obrigkeit, die Konsum und Wohlstand («blühende Landschaften») versprach, wurde die schon verloren geglaubte Rolle des Größenselbst untergeschoben, um die Position des Größenklein nicht verlassen zu müssen – was ja schmerzhafte Erkenntnis hätte auslösen können. Dass die demütigende Arbeitslosigkeit, die Abwicklung von Positionen, Funktionen, Kompetenzen und Erfahrungen im Osten ohne größere Proteste hingenommen wurden, ist ein Symptom der narzisstischen Störung: Der wirkliche Aufstand wurde aus Unsicherheit und Selbstabwertung nicht gewagt, es gab keine eigenständige Orientierung, und in der neuen Herabwürdigung im deutschen Vereinigungsprozess erfüllte sich nur die sattsam bekannte innerseelische Erfahrung früher Abwertung.
Die Wende in der DDR wurde rasch zum Systemwechsel nach narzisstischem Muster: eine Herrschafts-Unterwerfungs-Kollusion zwischen westdeutschem Größenselbst und ostdeutschem Größenklein. Die deutsche Vereinigung verkam zum bloßen Beitritt, was voraussetzte, dass auf beiden Seiten die Mehrheit eine solche Entwicklung für richtig hielt.
Um das zu verstehen, muss man auch die westdeutsche Entwicklung nach dem Kriegsende aus narzisstischer Perspektive betrachten: Tod, Zerstörung, Schmach und Schuld sollten hier auf keinen Fall seelisch realisiert werden. Im manischen Wiederaufbau, der zu einem «Wirtschaftswunder» führte, sollte die narzisstische Verletzung (individuell wie kollektiv) vergessen gemacht und ausgeglichen werden. Möglichst rasch versuchte man die verloren gegangene Größenselbst-Position wieder einzunehmen. Der rasant erreichte Wohlstand, der selbst eine «soziale Marktwirtschaft» erlaubte, hat die massenwirksame neue narzisstische Kollusion ermöglicht. In Schlagzeilen wie «Exportweltmeister» oder im Deutschlandfahnen schwenkenden «Sommermärchen» einer Fußballweltmeisterschaft werden Symptome des Größenwahns erkennbar.
Aber das Hauptsymptom der narzisstischen Problematik sind inzwischen die Schulden des Staates und einer großen Anzahl von Bürgern. An den Schulden wird deutlich, dass es eine Übereinstimmung gibt, über die tatsächlichen Verhältnisse zu leben. Staats-, Wirtschafts- und Finanzpolitik verführen, ja nötigen dazu, Schulden zu machen, damit Besitz geschaffen, Investitionen getätigt und materielles Wachstum gesichert werden. Ich erinnere mich genau, dass mir nach der Wende geraten wurde, Schulden zu machen, um beispielsweise eine Wohnung zu kaufen und damit Steuern zu sparen. Aber die gesparten Steuern müsse ich doch als Zinsen an das Kreditinstitut zurückzahlen, lauteten meine kritischen Bedenken; unter dieser Vorgabe würde ich lieber Steuern für das Gemeinwohl als Zinsen für Bankenreichtum zahlen. Mit dieser Einstellung wurde ich nahezu verhöhnt als einer, der im Westen nicht angekommen sei.
Die Schuldenideologie ist ein tragisches Beispiel narzisstischer Illusion. Die rationalen Begründungen dafür haben sich inzwischen als falsch erwiesen und drohen Euroland wie Dollarland in ein gefährliches Chaos zu stürzen. Die Selbstwertproblematik hat im Geld das geeignete Vehikel gefunden, um sich mit Besitz und Konsum zu betäuben. Doch wissen wir längst aus zahlreichen Untersuchungen, dass nach Befriedigung basaler Lebensbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung und Versorgung im Krankheitsfall) sich die menschliche Zufriedenheit und das subjektive Glückserleben nicht mehr durch weiteres materielles Wachstum erhöhen lassen. Die narzisstische Kompensation dagegen braucht ständige – suchtartige – Erweiterung der Ablenkung durch Konsum, Besitz, Animation und Aktion.
Die Gier, die den Bankern und Managern mit Recht bescheinigt wird, ist aber ebenso das zeitgemäße Symptom der narzisstischen Bedürftigkeit der meisten Bürger der westlichen
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