Die narzisstische Gesellschaft
Industrienationen. Gier ist nicht Ausdruck einer normalen menschlichen Wesensart, sondern immer ein Krankheitssymptom. Die natürliche Bedürfnisbefriedigung verläuft in Rhythmen und Zyklen, ohne Steigerungsehrgeiz, wenn die Befriedigung angemessen möglich ist. Das Suchtpotential ist immer Folge früher Entbehrungen, die nur unter ständiger Steigerung der Dosis der Ablenkungs- und Kompensationsmittel notdürftig und kurzfristig beruhigt werden können.
Die deutschen Gesellschaftssysteme des vergangenen Jahrhunderts und der Gegenwart lassen sich wohl kaum miteinander vergleichen – ein solcher Versuch wird in aller Regel empört als unzulässig zurückgewiesen. Und doch ist die narzisstische Grundstörung der Menschen, die die jeweiligen Gesellschaften tragen und ausgestalten, durchaus vergleichbar. Wir können nicht einmal ein reiferes Störungsniveau für die real existierende Wachstums- und Konsumgesellschaft in Anspruch nehmen. Die destruktiven Folgen von Phänomenen wie Klimawandel, Umweltzerstörung, Artensterben, Zivilisationserkrankungen, krimineller Energie, Verkehrstoten, radioaktiver Verseuchung, scheinbar unvermeidbaren Kriegen zur Terrorbekämpfung und der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen werden bislang lediglich noch nicht als bedrohlich genug wahrgenommen, oder ihr Zusammenhang mit einer vom falschen Selbst geprägten Lebensweise bleibt verleugnet.
Mit den «Grünen» ist das Bewusstsein für die Folgen unserer Lebensweise gewachsen, so dass heute jeder täglich über die selbsterzeugten Krisen und die bedrohlichen Folgen informiert wird. Nichts ist mehr gesichert: weder der Euro noch der Dollar, weder die Arbeitsplätze, die Renten und die Krankenversorgung noch unsere Ersparnisse und schon gar nicht der Lebensstandard. Selbst Nahrung, Luft, Wasser bergen zunehmend und unübersehbar gesundheitsschädigende Risiken. Wir alle wissen das. Es ist faszinierend, mit welcher Menge von Wissen und Erkenntnissen die Verhältnisse analysiert und mit wie viel Ideen und Appellen Veränderungen angemahnt werden – und nichts passiert wirklich.
Ich kenne diese Situation aus der Suchtmedizin: Kein Süchtiger kann gerettet werden, keine Hilfe macht Sinn, wenn nicht vom Kranken selbst eine grundsätzliche Kapitulation des bisherigen Verhaltens akzeptiert wird. Dies aber wird in den allermeisten Fällen erst demjenigen möglich, der richtig «in der Gosse liegt». Erst das reale Ende der Abwehr und die tatsächliche Lebensbedrohung schaffen eine Chance zur Einsicht und Veränderung. Nicht die Vernunft, das Wissen oder gar die Einsicht in die Notwendigkeit lassen umsteuern, sondern die nackte Bedrohung des Überlebens. Diese schlimme Wahrheit müssen wir auch für die gesellschaftliche Fehlentwicklung der Gegenwart befürchten.
Im Verständnis der narzisstischen Störung liegt aber auch eine Erklärung für diese Irrationalität. Der Narzisst kann von seinem falschen Leben nicht lassen, ohne dass ihm Verlust und Verletzung, Demütigung und mangelhafte Entwicklung des wahren, echten Lebens bewusst werden. Geschieht dies unvorbereitet, beispielsweise durch einen Verlust, eine Trennung oder ein Unglück, begehen manche lieber Suizid, als dass sie die innere Auseinandersetzung mit ihrem schmerzvollen Schicksal annehmen.
Die Schuldengesellschaft ist eine kollektiv ausgeformte Suchterkrankung, bei welcher der Staat der Drogenproduzent, die Banken die Dealer, die Wirtschaft das Drogenkartell und die Bürger die Abhängigen sind. Schuldenmachen, das heißt mehr Geld ausgeben, als man wirklich verdient hat, verschafft geborgten künstlichen Reichtum und spiegelt exakt die narzisstische Notwendigkeit wider, sich aufzublasen, etwas herzumachen und sich selber etwas vorzumachen, um der eigentlichen Bedürftigkeit – der Beziehungssehnsucht – zu entkommen. Ein Entkommen aus der Schuldenfalle ist bei narzisstischer Störungsgrundlage nicht möglich, da die notwendige Begrenzung, die erforderliche Bescheidenheit und Sparsamkeit die seelische Ersatzstabilisierung gefährden oder sogar zusammenbrechen lassen würden. Wider alle Vernunft und trotz allen Wissens wird deshalb ein bescheideneres Leben, das sogar die Potenz hätte, entspannter und glücklicher zu machen, nicht angenommen. Denn vor dem Lustgewinn infolge des Ausbleibens von Statusstress und Geldsorgen steht die Verarbeitung des narzisstischen Elends. Die jedoch hat kaum eine Chance. Um eine Gesellschaft umzusteuern, ein Leben ohne materielles Wachstum und
Weitere Kostenlose Bücher