Die narzisstische Gesellschaft
Erfolg zum Überleben. Deshalb boomen der Diätwahn, die Fitness- und Aktiverholungsprogramme, die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln und eine fast magische Heilungserwartung an die Medizin. Der Missbrauch medizinischer Kunst zu sogenannten Schönheitskorrekturen ist ein Riesengeschäft geworden. Welch ein tragischer Irrtum, die nicht zur Kenntnis genommene narzisstische Problematik operativ entfernen oder korrigieren zu wollen!
Wenn ein Narzisst alt, krank und gebrechlich wird, wenn er an Macht, Ansehen, Einfluss und Bedeutung verliert, dann hat er ein echtes Problem. Mit dem Wegfall der wesentlichen Kompensations- und Ablenkungsmöglichkeiten wird das narzisstische Defizit automatisch wieder «wund», was sich in wachsender Unruhe, Nörgelei, Weinerlichkeit, dysphorischer Verstimmung, in Streitangeboten, Vorwürfen, Rechthaberei und vor allem in der Zunahme körperlicher Beschwerden äußert, wobei die Beschwerden aus Alterungsprozessen und chronischen Erkrankungen der somatisierten Larmoyanz entgegenkommen. Der körperliche Schmerz ist dann im Grunde das Äquivalent für den aktivierten frühen Schmerz, der nicht mehr kompensiert und abgelenkt werden kann, aber auch nicht in seiner eigentlichen Verursachung wahrgenommen werden darf. Deshalb die Heftigkeit und Häufigkeit der psychischen, sozialen und körperlichen Beschwerden und Konflikte. So wird auch verständlich, dass die Verrentung eine häufige Todesursache ist. Mit ihr geht die narzisstische Hauptkompensation durch Berufstätigkeit verloren und die frei werdende Verletzungsenergie kann nicht mehr neu gebunden werden.
Dass veränderte Körperformen oder Falten im Gesicht das wahre Leben signalisieren, vermag der Narzisst nicht zu akzeptieren, weil er sein gesamtes bisheriges Leben auf Verleugnung der tiefen seelischen Verletztheit und auf Kompensation der Selbstwertproblematik aufgebaut hat. Innere Werte schätzt er nicht hoch genug ein, sie sind schwach und brüchig, abgewertet und beschädigt. Und jetzt gehen auch die äußeren Werte verloren – wie kann man da noch weiterleben? Man sollte narzisstische Probleme also möglichst früh erkennen, verstehen und so gut wie möglich verarbeiten, damit der natürliche Altersverfall nicht derart pathogene Wirkungen hervorruft, sondern als ein unvermeidbarer, zur Lebenskurve gehörender und spezifisch zu gestaltender Prozess angenommen werden kann – wie alle anderen Lebensphasen auch. Natürlich ist die Verführung groß, die bisherigen Abwehrbemühungen bis zum bitteren Ende fortzuführen – mit dem Ergebnis, dass man die bisherigen Rollen und Funktionen schlecht loszulassen vermag, Aufgaben und Verantwortung nicht weitergeben kann oder will. «Wer rastet, der rostet!», lautet die gängige Drohung, statt zu akzeptieren, dass der «Rost» lediglich unvermeidbares Zeichen des Vergehens ist und dementsprechend akzeptiert und sogar gewürdigt sein will. Nur – wer nie wirklich gelebt hat, sich nur im falschen Leben um Ansehen bemüht hat, für den ist «Rost» natürlich eine schwere narzisstische Kränkung, und mit seiner Wahrnehmung bricht die übertünchte narzisstische Verletzung unmissverständlich wieder durch.
Für den Größenklein-Narzissten stellt sich die Problematik des Alterns anders dar. Jetzt setzt sichtbar und erkennbar ein, was man ja schon längst erlebt hat: Gebrechlichkeit, Behinderung, Schwäche, Nichtkönnen. Die durch frühen Bestätigungsmangel erworbene, nahezu verordnete Selbstabwertung wird nun vollendet, erfährt ihren Höhepunkt. Das Leiden und Klagen nimmt unheilvolle Züge an, so dass tatsächlich reale Ablehnung in der Familie, im Krankenhaus, Alters- oder Pflegeheim droht. Die Unzufriedenheit und Nörgelei nimmt kein Ende, weil die realen Einschränkungen und Beschwerden des Alters das gesamte bittere Lebensleid gleichsam huckepack nehmen und nun scheinbar damit erklärt werden können. Lediglich die Diskrepanz zwischen der subjektiven Larmoyanz und der realen Situation verrät die verborgene Bedeutung. Werden Angehörige oder Pflegekräfte durch die Dysphorie zur Verzweiflung gebracht, erfährt das Größenklein eine späte, natürlich äußerst fragwürdige Genugtuung; einmal mehr trifft das Abreagieren die Falschen und statt wirklicher Erleichterung stellt sich Jammersucht ein. Ich habe einige Fälle von Demenz in meiner ärztlichen Praxis kennengelernt, bei denen sehr tüchtige, hilfreiche, herzensgute, sich aufopfernde Menschen infolge der dementen Veränderung
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