Die Naschmarkt-Morde
gekauften Hut mit Schleier auf und zog sich die Jacke über ihren mittels Korsett zur Wespentaille geschnürten Oberkörper. Sie liebte Korsagen, obwohl viele Damen in ihrem Freundeskreis neuerdings eine korsettlose Mode mit hoch gesetzten Taillen bevorzugten.
Hinaus! Wie von einer Feder getrieben, hastete sie durch die Innere Stadt. Ihr Weg führte sie über den einsamen Karlsplatz, vorbei an der Erfrischungsbude mit dem Gießhübler-Schriftzug und dem gemauerten Marktstand, den die Aufschrift ›Seefische‹ zierte. Bevor sie zwischen den Bäumen, Büschen, Abfallhaufen, dem Gerümpel und Marktzeug verschwand, fuhr ein Fiaker vorbei, in dem sie Franciscus Graf Borowicz erblickte. Der jungen Gräfin fiel ihr Cousin Aloysius ein, der den guten Franciscus einen Unglücksbringer nannte. Was natürlich ein dummer Aberglauben war! Flotten Schrittes durchquerte sie die Schattenwelt des Naschmarktes. Dabei hatte sie die Lichter der Magdalenenstraße fest im Blick: das Café Dobner und das Theater an der Wien, vor dessen Bühneneingang sie den Gotthelf treffen sollte.
Zwischen den gemauerten Marktständen verlangsamte sie ihren Schritt. Hier fühlte sie sich sicherer, hier war sie unlängst einem freundlichen älteren Herrn in die Arme gelaufen, der sie dann bis zum Café Dobner begleitet hatte. Als sie tief durchatmete und schlendernd an den dunklen Ständen entlangging, war ihr plötzlich, als ob ihr jemand folgte. Ein merkwürdiges Gefühl kroch ihre Wirbelsäule hoch, sie hatte Angst, sich umzudrehen. Wahrscheinlich wieder einer der Kavaliere, der sich nach einer Hure umsah. Jetzt hörte sie deutlich Schritte! Sie kamen näher und näher. Die Härchen in allen ihren Körperregionen begannen sich steil aufzustellen. Ihre krampfhaft Luft einsaugenden Lungen pressten Bauch und Brüste gegen die Umklammerung des Korsetts. Die Brustwarzen waren hart wie Kirschkerne. Der Wunsch, sich umzudrehen und dem Verfolger in die Augen zu schauen, wurde übermächtig. Mit aller Willenskraft konzentrierte sie sich auf diesen entscheidenden Augenblick. Sie hielt die Luft an, drehte sich schwungvoll um. Nichts!
Der Wind eines herannahenden Gewitters trieb raschelnde Papierln durch die düsteren Gänge. Ein liebestoller Kater stimmte ein larmoyantes Miauen an, und rechter Hand – in größerer Entfernung – grölte ein Betrunkener. Sie vergewisserte sich, dass nichts, rein gar nichts hinter ihr war, schrieb die vorher vernommenen Schritte ihrer überreizten nervlichen Verfassung zu und ging flott weiter. Bald hatte sie die gemauerten Buden hinter sich gelassen und befand sich nun auf dem Teil des Naschmarktes, dessen Stände gerade neu errichtet wurden. Hier waren nur Gerümpel, Kisten beziehungsweise Baumaterialien zu sehen. Wieder hörte sie Schritte! Sie näherten sich rapide. Blitzartig wieder Gänsehaut. Panik. Sie lief. Die Rechte raffte den Rock hoch. Die Linke hielt Hut samt Schleier. Hinter ihr wurden die Schritte schneller. Sie rannte. Plötzlich schlug ihr Schienbein an ein herausragendes Maurerbrett. Sie fiel vornüber, verhedderte sich mit dem Rock, drehte sich um und sah einen Schatten, der sich auf sie stürzte. Sie trat und krallte. Der Schatten griff nach ihrem Kopf, den sie mit einem verzweifelten Ruck zur Seite riss. Dann packte der Schatten ihren Hals und schlang ein Seidentuch herum. Unbarmherzig wurde ihre Kehle zugeschnürt. Sie strampelte. Traktierte den Angreifer mit Fäusten, wälzte und drehte sich. Sie versuchte, den Männerkörper abzuschütteln und laut zu schreien. Ein heiseres Krächzen war zu hören. Sie spürte den Atem des Mannes. Die Kraft seiner Hände. Verzweifelt merkte sie, dass ihr die Luft wegblieb. In einem letzten Aufbäumen rammte sie den Schädel gegen sein Kinn. Leider federte ihr Hut den Stoß ab. Nur einige Sekunden konnte sie – infolge des sich lockernden Würgetuchs – Luft schnappen. Dann wurde alles schwarz um sie herum.
XIII.
Satt und zufrieden griff Joseph Maria Nechyba zu einer schon öfter in Verwendung gewesenen Serviette, suchte sich an dieser mit Bedacht ein noch unbenutztes Stück Stoff aus und wischte sich zuerst die Mundmitte, dann den rechten und den linken Mundwinkel ab. Nun schritt der Inspector zur Säuberung seines buschigen, aufgezwirbelten Schnurrbarts. Die Zeremonie begann mit einem rhythmischen, von oben nach unten geführten Streichen entlang der rechten und dann der linken Hälfte der Oberlippe, um die sorgfältig gestutzten Bartteile von Essensresten zu
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