Die Naschmarkt-Morde
höherer Stelle gesandt – ein lautes Donnergrollen, das nicht allein blieb, sondern Schlag auf Schlag von vorauseilenden Blitzen und darauf folgenden Donnerschlägen begleitet wurde. Dazu ließ der nächtliche Himmel, den mittlerweile schwere Wolken verdunkelten, dicke Regentropfen herniederfallen. Wind kam auf, fegte in das Zimmer des Inspectors und wehte den Brief von dem dreibeinigen Tischchen herunter. Doch das merkte Joseph Maria Nechyba nicht. Er starrte in die immer dichter werdenden Tropfen, sog wie befreit die regenfeuchte Nachtluft ein und war plötzlich von einer Vision beseelt: Er würde persönlich bei der Litzelsbergerin vorbeischauen. Mit einem kleinen, feinen Blumenbouquet in der Hand und in seinem besten Anzug. Er würde sich vielmals für die Aufmerksamkeit und die Mühe bedanken und gleichzeitig auf ein Dankeschön – in Form eines Abendessens in einem gutbürgerlichen Speisehaus – bestehen. Nein, er würde sich nicht abwimmeln lassen von der möglicherweise kühlen und zurückhaltenden Attitüde der Frau Litzelsberger. Ja, er würde sie auf jeden Fall zum Speisen ausführen. Denn wann hatte ein über 40-jähriger Junggeselle und Hobbykoch schon Gelegenheit, eine professionelle Köchin – die hoffentlich unverheiratet war – näher kennenzulernen? Und wenn sie verheiratet war? Blödsinn! Köchinnen in Herrschaftshaushalten waren meistens ledig. Und wenn sie es nicht war, könnte er ihren Mann unter irgendeinem Vorwand verhaften und im Gefängnis schmoren lassen …
»Herrgott noch einmal! Was so ein Weib im Hirn eines Mannes alles anstellen kann …«, murmelte Nechyba und erschrak über seine eigenen Gedanken. Danach stand er noch lange am Fenster und starrte hinaus in das wüste Treiben des Sommergewitters.
2. Teil
Amtsblatt der k. k. Polizei-Direction in Wien:
Statthalterei-Erlass vom 9.Juli 1903, Z. 69.49 Auszug (Pol.- Z.65.948/A.B.).
Das k. k. Ministerium des Inneren hat anläßlich eines bestimmten Falles im Einvernehmen mit dem k. k. Handelsministerium mit dem Erlasse vom 24. Juni 1903, Z. 21.748 ausgesprochen, dass dem Gesetze vom 25. Februar 1902, R.G.Bl. Nr. 49, bei dem Mangel einer ausdrücklichen gegentheiligen Bestimmung desselben, nach dem im §. 5 a. b. G.B. festgestellten Grundsatze, ein Einfluss auf vorher erworbene Rechte nicht zukommt, und dass daher die vor dem Beginne der Wirksamkeit des citirten Gesetzes, das ist vor dem 15 September 1902 erlangten Gewerbsberechtigungen zum ambulanten Verkaufe von Artikeln, rücksichtlich welcher die Erlangung einer Gewerbsberechtigung zu einem derartigen Verkaufe früher nach §. 60, Alinea 2 Gewerbe-Ordnung zulässig war, gegenwärtig aber nach §. 60, Alinea 2 und §. 60a Gewerbe-Ordnung nicht mehr zulässig ist, wie »Artikel des täglichen Verbrauchs«, »Victualien« oder »Gebäck« durch das in Rede stehende Gesetz nicht berührt werden.
I/2.
Entspannt ritt er unter dem gewölbten Laubdach der Alleebäume dahin. Er befand sich in einem tranceartigen Zustand, den er an diesem Morgen besonders genoss. In der gleichförmigen Bewegung lösten sich seine Verspannungen, seine Sorgen und Ängste gleichsam in Luft auf. Seine gequälte Seele wurde von einer fast stoischen Gelassenheit – einer glücklichen Selbstzufriedenheit – erfasst. Fort waren die Chimären der Nacht, die ihn bis in den Morgen hinein gequält hatten. Eine selbstvergessene Schwerelosigkeit durchflutete die Ganglien seines Gehirns und wohl auch die Falten und Narben seiner Seele. Hier am Rücken seines Hengstes Adi genoss er einen der seltenen Momente von Glückseligkeit in seinem Leben. Dieses wohlige Einswerden von Denken und Fühlen hätte ihm Otto Weininger gewiss als Beweis des weiblichen Elements in seinem Charakter ausgelegt (denn bei Frauen sind Denken und Fühlen immer eins, für den Mann sind sie auseinanderzuhalten). Ach Gott, der Otto! Immer schon war dieser Schulfreund ein überdurchschnittlich begabter, leicht entzündbarer Geist gewesen. Äußerst unbequem für die Lehrer! Ein Geist, wie er sonst in 40- oder 50-Jährigen reifte, trieb hier in einem jungen Körper sein Unwesen. Ja, ja, der Otto … Trotzdem oder gerade deswegen mochte er seinen ehemaligen Schulkameraden so sehr. Wenn er an dessen eben publizierte Untersuchung ›Geschlecht und Charakter‹ dachte, die im renommierten Verlagshaus Braumüller erschienen war, dann zog er in Ehrfurcht den Hut vor ihm.
»Servus Loysi«, ertönte plötzlich eine wohlbekannte
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