Die Nebel von Avalon
zwischen Himmel und Erde. Sie sprach das Wort der Macht nicht wissentlich aus, sondern erlebte es wie einen Donner durch ihren Körper hindurchrollen… Stille… Schweigen. Nimue stand blaß und stumm neben ihr. Und dann bewegte sich etwas kaum wahrnehmbar auf dem dunklen Wasser des Sees. Nebelschleier schienen sich zu heben… ein Schatten, und dann… glitt die lange, dunkle und glänzende Barke von Avalon langsam aus den Nebeln. Morgaines Aufatmen war halb ein Seufzen, halb ein Schluchzen. Das Boot glitt geräuschlos wie ein Schatten an das Ufer. Doch das Knirschen des Kiels klang beim Anlegen wirklich und nicht geisterhaft.
Ein paar der kleinen dunklen Männer kletterten heraus und nahmen die Pferde beim Halfter. Sie verbeugten sich tief vor Morgaine und sagten: »Wir führen die Pferde über den anderen Pfad, Herrin«, und verschwanden in den Nebeln. Ein anderer trat zur Seite, damit Morgaine als erste das Boot betreten konnte. Dann hob er das Mädchen hinein, das starr vor Staunen war. Danach half er der verängstigten Dienerschaft. Die Barke glitt in tiefem Schweigen auf den See hinaus.
»Was ist das für ein Schatten, Tante?« flüsterte Nimue. »Die Kirche von Glastonbury«, erwiderte Morgaine, selbst überrascht von ihrer ruhigen Stimme. »Sie steht auf der anderen Insel, die wir von hier aus sehen können. Deine Großmutter liegt dort begraben, die Mutter deines Vaters. Eines Tages wirst du vielleicht ihr Grab sehen.«
»Gehn wir dorthin?«
»Heute nicht.«
»Aber das Boot hält geradewegs darauf zu… ich habe gehört, daß es dort ein Kloster gibt…«
»Nein«, beruhigte sie Morgaine. »Wir gehen nicht dorthin. Warte und sei still!«
Jetzt kam die wahre Prüfung. Vielleicht hatte man sie in Avalon mit dem Gesicht gesehen und die Barke geschickt. Aber konnte sie die Nebel nach Avalon öffnen? Darin lag die entscheidende Prüfung all dessen, was sie in den letzten Jahren getan hatte. Sie durfte nicht überlegen und versagen. Sie mußte sich einfach erheben und es tun, ohne darüber nachzudenken. Sie befanden sich jetzt in der Mitte des Sees. Der nächste Ruderschlag würde sie in die Strömung bringen, die zur Insel Glastonbury trieb… Morgaine stand schnell auf. Ihre Gewänder wogten; sie hob die Arme und erinnerte sich… Wie beim ersten Mal erlebte sie die Überraschung, daß dieser gewaltige Strom der Macht geräuschlos war, obwohl er donnernd den Himmel hätte zerreißen sollen… sie wagte nicht, die Augen zu öffnen, bis sie Nimues ängstlichen und staunenden Ausruf vernahm…
Es regnete nicht mehr, und vor ihnen im goldenen Licht der untergehenden Sonne lag grün und schön die Insel Avalon. Rotgoldene Strahlen fielen auf den See; Sonnenstrahlen brachen sich an den Ringsteinen auf dem Berg; Sonnenstrahlen vergoldeten die weißen Mauern des Tempels. Morgaine nahm alles durch einen Tränenschleier wahr. Sie schwankte im Boot und wäre gefallen, wenn eine Hand sie nicht an der Schulter gestützt hätte.
Zu Hause, zu Hause, ich bin hier, ich komme nach Hause…
Das Boot glitt knirschend über die Kiesel am Ufer, und Morgaine faßte sich. Es schien nicht richtig zu sein, daß sie nicht das Gewand einer Priesterin trug, obwohl Vivianes kleines Sichelmesser wie immer unter dem Gewand an ihrer Seite hing. Die seidenen Schleier, die Ringe an ihren schlanken Fingern… es schien alles nicht richtig zu sein… Königin Morgaine von Nordwales, ja, aber nicht Morgaine von Avalon… nun, das ließ sich ändern! Sie hob stolz den Kopf, holte tief Luft und nahm das Kind bei der Hand. Wie sehr sie sich auch verändert haben mochte, wieviele Jahre auch vergangen waren, sie war Morgaine von Avalon, die Priesterin der Göttin und der Großen Mutter. Am anderen Ufer des Sees, jenseits der Nebel und Schatten, war sie vielleicht die Gemahlin eines alten, lächerlichen Königs in einem entlegenen Land… hier war sie Priesterin und entstammte dem alten Königsgeschlecht von Avalon. Als Morgaine den Fuß ans Ufer setzte, sah sie ohne Überraschung die Dienstleute, die sich vor ihr verbeugten, und dahinter die wartenden dunklen Gestalten der Priesterinnen… Sie hatten es gewußt und waren gekommen, um sie bei ihrer Rückkehr nach Avalon zu begrüßen. Hinter den Priesterinnen sah sie ein Gesicht und eine Gestalt, die sie nur aus ihren Träumen kannte – eine große, königliche blonde Frau, deren Stirn schwere goldene Flechten bekränzten. Die Frau ging schnell auf Morgaine zu und umarmte sie. »Willkommen,
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