Die Nebel von Avalon
Schoß ihrer Mutter zu liegen… nein, nicht bei Igraine, sondern wieder in den Armen der Großen Mutter… Als Morgaine erwachte, war sie allein. Sie öffnete die Augen und blickte in das Sonnenlicht von Avalon. Sie weinte vor Freude und überlegte einen Augenblick, ob sie alles geträumt hatte. Aber über ihrem Herzen war eine kleine Stelle mit getrocknetem Blut, und auf dem Kissen neben ihr lag die silberne Sichel – der rituelle Schmuck einer Priesterin –, die sie bei ihrer Flucht aus Avalon zurückgelassen hatte.
Aber Raven hatte sie ihr doch um den Hals gelegt… Morgaine band sich den schmalen Lederriemen mit der Sichel um den Hals. Sie würde das Zeichen nie wieder ablegen. Wie Viviane würde man auch sie damit begraben. Mit zitternden Fingern machte sie einen Knoten und wußte, es bedeutete die neue Weihe zur Priesterin. Auf dem Kissen lag noch etwas anderes, und einen Augenblick lang bewegte und veränderte es sich – eine Rosenknospe, eine erblühte Rose, und als Morgaine sie in die Hand nahm, hielt sie eine pralle, runde und rote Hagebutte, in der das Leben der Rose pulsierte. Und noch während Morgaine sie betrachtete, welkte sie, schrumpfte und lag vertrocknet in ihrer Hand. Morgaine verstand plötzlich:
Blüte und Frucht sind nur der Anfang. Im Samen liegen Leben und Zukunft.
Morgaine seufzte tief und lang, während sie die Hagebutte in einen seidenen Beutel legte. Sie wußte jetzt, sie mußte Avalon wieder verlassen. Ihre Aufgabe war noch nicht beendet. Als sie aus Avalon floh, hatte sie sich den Ort ihrer Aufgabe und ihrer Prüfung selbst gewählt. Eines Tages würde sie vielleicht zurückkehren, aber die Zeit war noch nicht gekommen.
Und was ich bin, muß verborgen sein wie die Rose im Samenkorn.
Sie erhob sich und legte ihre königlichen Gewänder an. Eines Tages würde sie wieder das Gewand einer Priesterin tragen. Aber noch hatte sie das Recht dazu nicht erworben. Dann wartete sie, bis Niniane sie zu sich rief.
Als sie den Hauptraum betrat, in dem sie so oft Viviane gegenübergestanden hatte, schien die Zeit einen Augenblick lang rückwärtszustürzen, und Morgaine glaubte, sie müsse Viviane vor sich sehen. Sie wirkte noch kleiner auf dem großen Thron, und doch beherrschte sie den ganzen Raum… Sie blinzelte. Niniane saß vor ihr – groß, schlank und blond. Morgaine hatte den Eindruck, Niniane sei nur ein Kind, das auf dem Thron spielte.
Und plötzlich erinnerte sich Morgaine wieder an Vivianes Worte, die sie ihr vor so vielen Jahren gesagt hatte:
Du hast eine Stufe erreicht, auf der sich der Gehorsam deinem eigenen Urteil unterwerfen muß…
Und einen Augenblick lang glaubte sie, es sei das beste, sich zurückzuhalten, Niniane nur etwas zu sagen, das ihr Sicherheit geben würde. Aber dann stieg Zorn in ihr auf, als sie daran dachte, daß vor ihr eigentlich ein dummes Ding saß, ein ganz gewöhnliches Mädchen im Gewand einer Priesterin, das sich herausnahm, auf Vivianes Thron zu sitzen und im Namen von Avalon Befehle zu erteilen. Dabei hatte man Niniane nur gewählt, weil sie eine Tochter Taliesins war…
Wie kann sie wagen, dort zu sitzen und sich anmaßen, mir Befehle zu erteilen…?
Morgaine blickte auf die Priesterin herab. Ohne recht zu wissen, wie es kam, wußte sie, daß der alte Zauber und die Majestät wieder um sie waren. Und im Aufblitzen des Gesichts schien sie Ninianes Gedanken lesen zu können:
Sie sollte hier auf meinem Platz sitzen. Welche Befugnis habe ich, mit Königin Morgaine, mit Morgaine, der Fee, zu sprechen…?
Ninianes Gedanke wurde durch eine Mischung aus Ehrfurcht und plötzlich aufflammendem Ärger verdrängt:
Wenn sie uns nicht verlassen und sich ihren Pflichten entzogen hätte, müßte ich jetzt nicht darum kämpfen, einen Platz zu füllen, von dem wir beide wissen, daß er meine Fähigkeiten übersteigt…
Morgaine trat zu ihr, ergriff ihre Hände, und Niniane war von ihrer sanften Stimme überrascht.
»Es tut mir leid, mein armes Kleines. Ich würde mein Leben dafür geben, wenn ich hierbleiben und die Bürde von dir nehmen könnte. Aber ich kann nicht, und ich wage es nicht. Ich kann mich nicht hier verstecken und meine begonnene Aufgabe im Stich lassen, nur weil ich mich nach meinem Zuhause sehne.« Morgaine empfand nicht länger Überheblichkeit oder Verachtung gegenüber der jungen Frau, die man
gegen ihren Willen auf den Platz gestellt hatte, der ihr nicht bestimmt war. Sie bedauerte Niniane. »Ich muß meine Aufgabe im Westen zu Ende
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