Die Nebel von Avalon
geliebt wie mich… arme Mutter…«
Morgaine wünschte, sie könnte weinen und den schrecklichen Schmerz und die Verzweiflung mit den Tränen aus sich herausströmen lassen. Sie spürte Uwains heiße Tränen auf ihrer Stirn. Auch Uriens weinte. Aber sie blieb tränenlos und wie erstarrt. Die Welt schien nur noch grau zu sein und an den Rändern abzubröckeln. Alles, was sie ansah, wirkte riesenhaft und bedrohlich, aber gleichzeitig auch klein und weit entfernt, als könne sie es wie ein Spielzeug in die Hände nehmen… Sie wagte nicht, sich zu bewegen, damit nicht alles unter ihrer Berührung in Stücke zerbrach, und nahm kaum wahr, daß ihre Frauen kamen. Sie trugen ihren starren willenlosen Körper zum Bett, nahmen ihr die Krone ab und zogen ihr das Gewand aus, das sie in Erwartung des Sieges angelegt hatte. Teilnahmslos bemerkte sie, daß ihr Unterkleid wieder blutbefleckt war. Es machte ihr nichts aus. Sehr viel später kam sie zu sich und stellte fest, daß man sie gewaschen und ihr ein frisches Unterkleid angezogen hatte, und daß sie neben Uriens im Bett lag. Eine ihrer Frauen war auf einem Stuhl daneben eingenickt. Morgaine richtete sich auf und betrachtete den schlafenden Uriens. Sein Gesicht war eingefallen und vom Weinen gerötet; sie glaubte, einen Fremden zu sehen. Ja, auf seine Weise war er gut zu ihr gewesen.
Aber das alles ist jetzt vorbei. Mein Werk in seinem Land ist getan. Ich will sein Gesicht in diesem Leben nicht wiedersehen, und ich will auch nicht wissen, wo er begraben liegt.
Accolon war tot, und alle ihre Pläne hatten sich zerschlagen. Artus besaß immer noch Excalibur und die magische Scheide, die sein Leben schützte. Der eine hatte versagt, dem sie die Aufgabe anvertraut hatte, und sich in den Tod geflüchtet, wohin sie ihm nicht folgen konnte. Nun mußte sie selbst die Hand von Avalon sein, die Artus stürzte.
So geräuschlos, daß selbst ein Vogel nicht erwacht wäre, kleidete Morgaine sich an und band das Sichelmesser von Avalon an ihren Gürtel. Alle prächtigen Gewänder und Juwelen, die Uriens ihr geschenkt hatte, ließ sie zurück. Sie hüllte sich in ihr einfachstes – ein dunkles – Gewand, das dem einer Nonne glich, fand ihren kleinen Beutel mit den Kräutern und der Medizin und zog sich im Dunkeln den Halbmond auf der Stirn nach. Dann legte sie den einfachsten Umhang um, den sie fand – nicht ihren goldbestickten, mit kostbaren Steinen besetzten Mantel, sondern den groben Umhang einer Dienerin – und schlich lautlos die Treppe nach unten. Aus der Kapelle drangen Trauergesänge. Uwain hatte das für seinen Bruder veranlaßt. Es zählte nicht mehr. Accolon war frei. Was bedeutete es schon, welchen Mummenschanz die Christenpriester mit einem leblosen Körper veranstalteten? Jetzt galt es nur noch, das Schwert von Avalon zurückzuerobern. Morgaine wendete der Kapelle den Rücken. Eines Tages würde sie Zeit finden, Accolon zu betrauern. Jetzt mußte sie dort weitermachen, wo er versagt hatte. Leise ging sie in die Ställe und fand ihr Pferd. Es gelang ihr, mit ungeschickten Händen dem Tier den Sattel aufzulegen. Dann führte sie es zum kleinen Seitentor. Ihr verschwamm alles vor den Augen, und nur mit unsäglicher Mühe konnte sie in den Sattel steigen. Einen Augenblick lang schwankte sie und glaubte, vom Pferd zu fallen. Sollte sie warten oder versuchen, Kevin zu Hilfe zu rufen? Der Merlin von Britannien war durch einen Schwur verpflichtet, dem Willen der Herrin zu gehorchen. Aber auch Kevin konnte sie nicht trauen. Er hatte Viviane verraten und in die Hände der Christenpriester gegeben, die jetzt ihre Totenlieder über Accolons Leichnam sangen. Sie flüsterte dem Pferd etwas ins Ohr, und das Tier setzte sich langsam in Bewegung. Am Fuß des Hügels wandte sie sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf Camelot.
In diesem Leben werde ich nur noch einmal hierher zurückkommen. Dann wird es kein Camelot mehr geben, zu dem ich zurückkehren könnte.
Als sie diese Worte flüsterte, fragte sich Morgaine, was sie wohl bedeuteten.
Morgaine war schon oft nach Avalon gereist, aber nur einmal hatte sie die Insel der Priester betreten. Viviane lag in der Abtei von Glastonbury begraben… jetzt erschien ihr der Weg dorthin fremder als das Durchqueren der Nebel, die die verborgenen Länder schützten. Am Seeufer fand sie ein Fährboot. Sie gab dem Fährmann eine Münze,
damit er sie über den See ruderte, und überlegte, was der Mann wohl tun würde, wenn sie sich
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