Die Nebel von Avalon
Morgaine sah den Bruder im Halbdunkel. Er war unrasiert, ausgezehrt und naß von Schweiß. Die Schwertscheide lag am Fußende des Bettes – er mußte vorausgesehen haben, daß sie etwas unternehmen würde. Deshalb lag die Scheide in seiner Reichweite. Seine Hand umklammerte Excalibur.
Etwas hat ihn gewarnt.
Furcht beschlich Morgaine. Auch Artus besaß das Gesicht. Obwohl er dem dunklen Volk von Britannien kaum ähnelte, entstammte auch er dem uralten Königsgeschlecht von Avalon und konnte ihre Gedanken erraten. Sie wußte, wenn sie versuchte, ihm Excalibur aus der Hand zu nehmen, würde er ihre Absicht spüren. Er würde erwachen und sie töten. Darüber gab sie sich keinen Illusionen hin. Er war ein guter Christ – zumindest hielt er sich dafür – und auf den Thron gekommen, um seine Feinde zu töten. Auf eine mystische Weise, die Morgaine nur halb verstand, war das Schwert Excalibur mit Geist und Seele von Artus' Königtum verwachsen. Wäre Excalibur nur ein Schwert, dann hätte Artus es bereitwillig Avalon zurückgegeben und sich ein stärkeres und besseres Schwert schmieden lassen… aber Excalibur war das sichtbarste und höchste Symbol seiner Königs würde.
Vielleicht ist es das Schwert selbst, das sich mit Artus
'
Seele und Königtum verbunden hat. Vielleicht wird es mich töten, wenn ich versuche, es ihm zu nehmen… Wage ich, mich dem Willen eines magischen Zeichens entgegenzustellen?
Morgaine schob diese Gedanken beiseite. Sie griff nach ihrem Dolch, der so scharf war wie ein Rasiermesser. Wenn sie mußte, konnte sie so schnell sein wie eine Schlange. Sie sah die pulsierende Ader an seinem Hals. Sie wußte, wenn sie mit einem schnellen, tiefen Stich in die Große Arterie darunter traf, würde Artus tot sein, ehe er auch nur um Hilfe rufen konnte.
Sie hatte schon vorher getötet. Sie hatte Avalloch ohne Zögern in den Tod geschickt und vor nicht einmal drei Tagen das unschuldige
Kind in ihrem Leib umgebracht… vor ihr lag der große Verräter. Ein Stoß mit dem Dolch… aber er war das Kind, das Igraine ihr in die Arme gelegt hatte… ihre erste Liebe, der Vater ihres Sohnes, der Gehörnte Gott, der König…
Stoß zu, du Närrin! Deshalb bist du gekommen! Nein, es hat zu viele Tote gegeben. Ein Leib hat uns geboren, und ich könnte im Land hinter dem Tod nicht vor meine Mutter treten… nicht mit dem Blut meines Bruders an den Händen.
Morgaine wußte, sie stand am Rand des hellen Wahnsinns und hörte Igraine ungeduldig rufen:
Morgaine, ich habe dir gesagt, du sollst auf den Kleinen aufpassen…
Artus schien sich im Schlaf zu regen, als habe auch er die Stimme gehört. Morgaine schob den Dolch in die Scheide zurück, streckte die Hand aus und nahm die Schwertscheide. Sie besaß das Recht, wenigstens die Scheide an sich zu nehmen – sie hatte sie mit eigenen Händen gefertigt, und es waren ihre Zauber, die sie hineingewoben hatte.
Sie verbarg die Scheide unter ihrem Mantel und schritt rasch durch die Morgendämmerung zum Fährboot. Während der Fährmann sie übersetzte, spürte sie das Prickeln auf der Haut und schien schemenhaft die Barke von Avalon zu sehen… am anderen Ufer warteten die kleinen Männer in der Barke auf sie.
Schnell, schnell! Ich muß sofort nach Avalon zurück…
Aber die Sonne ging auf, und der Schatten der Kirche fiel auf das Wasser. Plötzlich überflutete Licht das Land, und im anbrechenden Morgen erklangen von überall her die Kirchenglocken. Morgaine stand wie gelähmt am Ufer. Bei ihrem Klang konnte sie weder die Nebel rufen noch den Zauber sprechen.
Sie fragte einen der Männer: »Könnt ihr mich schnell nach Avalon bringen?«
Ängstlich zitternd erwiderte er: »Nein, Herrin. Es wird immer schwieriger ohne eine Priesterin, die den Zauber kennt. Selbst dann ist es frühmorgens, mittags und bei Sonnenuntergang
unmöglich,
die Nebel zu durchqueren, solange die Glocken zum Gebet läuten. Der Zauber öffnet den Weg um diese Zeit nicht mehr. Wenn wir warten, bis die Glocken schweigen, kann es uns vielleicht gelingen.«
Weshalb ist das so?
fragte sich Morgaine. Es hing mit dem Wissen zusammen, die Welt war nur das, was die Menschen glaubten… in den vergangenen drei oder vier Generationen hatte sich der Geist der Menschen Jahr für Jahr mehr in dem Glauben verhärtet, daß es nur
einen
Gott gab, nur
eine
Welt und
einen
Weg, die Wirklichkeit zu beschreiben. Alles andere, was in den Bereich dieser großen
Einheit
hineindrang, konnte nur vom Bösen und vom Teufel
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