Die Nebel von Avalon
grünen Hügeln von Avalon sang und von den Wassern des Lebens… und stand vor Kevin, streckte die Arme nach ihm aus. Er stellte behutsam die Harfe beiseite und fing mich auf, als ich halb bewußtlos in seine Arme sank… dann hörte ich nur noch Kevins freundliche, halb spöttische Worte: »Ich kann dich nicht halten, Morgaine. Das weißt du ja.«
Damit setzte er mich sanft in meinen Stuhl zurück. »Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen, Morgaine?«
»Ich kann mich nicht erinnern«, gestand ich und wurde mir plötzlich einer tödlichen Schwäche bewußt. Er rief die Dienerin und befahl ihr mit der sanften Autorität eines Druiden und Heilers: »Bringe deiner Herrin etwas Brot und warme Milch mit Honig.« Ich hob abwehrend die Hand. Die Frau wirkte ungehalten, und mir fiel ein, daß sie zweimal versucht hatte, mich damit zum Essen zu bewegen. Aber sie befolgte seine Anweisungen und brachte das Gewünschte. Kevin tauchte das Brot in die Milch und fütterte mich langsam und liebevoll.
»Das genügt«, sagte er schließlich. »Du hast zu lange gefastet. Aber vor dem Einschlafen mußt du noch ein bißchen Milch mit einem Ei trinken… ich werde ihnen zeigen, was sie tun müssen. Übermorgen bist du dann vielleicht stark genug, um zu reiten.« Plötzlich begann ich zu weinen. Endlich weinte ich um Accolon, der tot auf der Bahre lag, um Artus, der mich jetzt haßte, und um Elaine, die meine Freundin gewesen war… und um Viviane, die in einem christlichen Grab ruhte, um Igraine und um mich, weil ich all das erleben und durchleben mußte… und wieder sagte Kevin: »Arme Morgaine, arme kleine Morgaine.«
Er drückte mich an seine magere Brust, und ich weinte und weinte, bis meine Tränen schließlich versiegten. Dann rief er meine Frauen, und sie trugen mich ins Bett. Zum ersten Mal seit vielen Tagen schlief ich wieder. Zwei Tage später ritt ich nach Avalon.
Ich weiß nur noch wenig von der Reise in den Norden, die ich krank an Leib und Seele unternahm. Ich wunderte mich noch nicht einmal, daß Kevin mich verließ, noch ehe ich den See erreichte. Bei Sonnenuntergang stand ich am Ufer. Das Wasser des Sees glühte scharlachrot, der Himmel stand in Flammen, und aus dem feuerroten Wasser und dem glühenden Himmel tauchte wie ein Traumgebilde die Barke auf – schwarz bemalt und schwarz verhängt. Einen Augenblick lang glaubte ich, es sei das Heilige Boot auf dem uferlosen Meer, von dem ich nicht sprechen darf. War die dunkle Gestalt am Bug Sie?
Ich schien den Raum zwischen Erde und Himmel zu überspannen… aber ich weiß nicht, ob es Wirklichkeit war oder nur ein Traum. Dann senkten sich die Nebel über uns, und ich spürte in meiner Seele die Veränderung, die mir sagte, daß ich wieder einmal zu Hause war.
Niniane begrüßte mich am Ufer. Sie nahm mich nicht wie eine Fremde in die Arme, die mich nur zweimal gesehen hatte, sondern wie eine Tochter, die ihre Mutter begrüßt, von der sie seit vielen Jahren getrennt war. Dann brachte sie mich in das Haus, das Viviane bewohnt hatte. Diesmal schickte sie mir keine jungen Priesterinnen zum Aufwarten, sondern übernahm die Aufgabe selbst. Sie brachte mich im hinteren Gemach zu Bett und holte Wasser aus der Heiligen Quelle. Als ich es trank, wußte ich, daß ich gesunden würde, obwohl es lange dauern würde…
Ich hatte die Macht kennengelernt und legte gern die Last der Welt nieder. Es war Zeit, sie anderen zu übergeben und mich von meinen Töchtern pflegen zu lassen. Langsam, sehr langsam gewann ich in der Stille von Avalon meine Kräfte wieder. Dort konnte ich endlich um Accolon trauern – nicht um meine zerschlagenen Hoffnungen und Pläne… jetzt sah ich, welcher Wahnsinn das alles gewesen war. Ich war Priesterin von Avalon und keine Königin. Aber ich konnte um den kurzen, bitteren Sommer unserer Liebe trauern. Ich litt um das Kind, das nicht lange genug leben durfte, um geboren zu werden. Und wieder quälte mich der Gedanke, daß ich es mit eigener Hand in das Reich der Schatten geschickt hatte. Es war eine lange Zeit der Trauer. Manchmal fragte ich mich, ob ich mein ganzes Leben trauern und nie mehr Erlösung von dieser Qual finden würde…
Aber schließlich konnte ich mich erinnern, ohne zu weinen. Ich konnte an die Tage der Liebe denken, ohne daß aus den Tiefen meiner Seele der Schmerz wie ein nicht enden wollender Strom von Tränen aufstieg. Kein Leid ist größer als die Erinnerung an die Liebe und das Wissen, daß sie für immer gestorben ist…
Weitere Kostenlose Bücher