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Die Nebel von Avalon

Titel: Die Nebel von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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Ballade, denn er hatte sie oft an Artus
'
Hof gesungen. Er sang von einem Barden aus alter Zeit, von Orpheus, der die Bäume zum Tanzen brachte. Wenn er spielte, bildeten die Steine in der Ebene einen Kreis und tanzten. Alle Tiere des Waldes kamen und legten sich ihm zu Füßen, selbst jene, die ihn mit Klauen und Zähnen hätten zerfleischen können. Aber an diesem Tag sang er weiter. Und dieser Teil des Liedes war ein Mysterium, ich hatte ihn nie gehört. Orpheus, der Geweihte, hatte seine Geliebte verloren. Er stieg in die Unterwelt hinab und trat vor die Herrscher des Totenreichs. Er flehte sie an, und man erlaubte ihm, in das dunkle Reich zu wandern, um sie zurückzubringen. Er fand sie in den ewigen Gefilden… Seine Seele sprach direkt zu mir… ich hörte eine flehende Stimme, die aus mir zu sprechen schien.
    »Versuche nicht, mich von hier wegzuführen. Ich habe mich damit abgefunden, im Reich der Toten zu bleiben. Hier in diesen ewigen Gefilden herrscht Ruhe. Es gibt weder Schmerz noch Kampf. Hier kann ich Liebe und Trauer vergessen.«
    Der Raum versank. Ich roch nicht mehr den Rauch des Feuers und hörte auch den eiskalten Regen vor den Fenstern nicht mehr. Ich spürte nicht mehr meinen Körper, der krank und benommen dort am Feuer saß. Ich stand in einem Garten mit duftlosen Blüten, wo ewiger Friede herrschte. Nur ferne Harfenklänge durchbrachen zögernd die Stille. Die Harfe sang für mich… unaufgefordert. Sie sang vom Wind in Avalon, der den Duft der Blüten und den Geschmack reifer Äpfel mit sich trug. Sie brachte mir die kühle Frische des Nebels, der über dem See lag und die Geräusche fliehender Hirsche im Wald, wo das Kleine Volk lebt. Die Harfe sang vom sonnendurchfluteten Sommer, als ich in Lancelots Armen im Schatten der Ringsteine lag, und das Blut zum ersten Mal in meinen Adern aufstieg wie der Saft in den Bäumen. Dann spürte ich in meinen Armen die sanfte Last meines kleinen Sohnes. Seine seidigen Haare lagen weich an meinem Gesicht. Sein Atem duftete süß nach Milch… oder war es Artus, der sich an mich klammerte und mit kleinen Händen meine Wangen streichelte…?
    Wieder legte sich Vivianes Hand segnend auf meine Stirn, und ich empfand mich als Brücke zwischen Himmel und Erde, während ich die Hände zur Anrufung erhob… Stürmische Winde brausten durch den Hain, in dem ich in der Dunkelheit der Sonnenfinsternis mit dem jungen Hirsch lag. Accolon rief meinen Namen…
    Jetzt hörte ich nicht nur die Harfe, sondern die Stimme der Toten und der Lebenden, die mir zuriefen: »Kehre zurück, kehre zurück! Das Leben mit all seinen Freuden und Schmerzen ruft dich…«, und plötzlich kam ein neuer Ton in die Stimme der Harfe. »Ich bin es, der dich ruft, Morgaine von Avalon… Priesterin der Großen Mutter…«
    Ich hob den Kopf und sah nicht Kevins gebeugten Körper mit dem traurigen Gesicht. Vor mir stand eine große, glänzende Gestalt. Ihr Gesicht erstrahlte wie die Sonne, und in ihren Händen hielt sie die leuchtende Harfe. Mir stockte der Atem beim Anblick der Gottheit. Die klingende Stimme wiederholte: »Kehre ins Leben zurück, kehre zu mir zurück… du hast geschworen… das Leben erwartete dich jenseits der Dunkelheit des Todes…«
    Ich versuchte mühsam, mich abzuwenden. »Nicht der Gott kann mir befehlen, sondern die Göttin…
«
    »Aber«, ertönte die vertraute Stimme durch das ewige Schweigen. »Du bist die Göttin, und ich bin es, der dich ruft…« Einen Augenblick lang sah ich mich wie im stillen Wasser des Spiegels von Avalon. Ich trug die Gewänder und die Hohe Krone der Herrin des Lebens…
    »Aber ich bin alt, zu alt. Ich gehöre dem Tod und nicht dem Leben…«, flüsterte ich. Im Schweigen erwachten Worte, die ich im Ritual immer und immer wieder gehört hatte, auf den Lippen des Gottes plötzlich wieder zum Leben.
    »… sie wird nach ihrem Willen alt und jung sein…« Das Spiegelbild vor meinen Augen war wieder klar und rein, wie das der Jungfrau, die den jungen Hirsch zu den fliehenden Hirschen schickte… ja, und ich war alt gewesen, als Accolon zu mir kam. Und doch hatte ich ihn mit seinem Kind im Leib in den Kampf geschickt… selbst alt und unfruchtbar pulsierte das Leben in mir wie im unsterblichen Leib der Erde und der Herrin… die Gottheit stand vor mir, das Ewige. Es rief mich ins Leben zurück… ich machte einen Schritt, noch einen,
dann stieg ich, stieg durch die Dunkelheit nach oben und folgte den fernen Klängen der Harfe, die von den

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