Die Nebelkinder
sich auf diesen einen Ast. Das Blattwerk löste sich auf, dann die Rinde. Der Ast schrumpfte und mit ihm seine Zweige, die sich in Arme und Beine verwandelten.
Ein grinsender Durin kauerte vor dem Ast, auf dem Albin saß. »Wie ich schon einmal sagte, du bist sehr stark, Prinz Albin. Vielleicht stärker als ich, aber dir fehlt die Erfahrung. Du würdest Jahre brauchen, um sie zu erlangen, aber du hast nur noch wenige Augenblicke!«
»Du nennst mich Prinz? Dann ist es wahr, du bist der Mörder meiner Familie!«
»Du weißt es doch bereits. Fast bin ich froh, dass du mir damals entronnen bist. Sonst hätte es mich um ein anregendes Spiel gebracht. Ein Spiel, das jetzt vorbei ist!«
Durin wollte Albins Ast betreten, schreckte aber vor den Raubkatzen zurück, die ihm aus dem verzweigten Geäst entgegensprangen. Es waren Luchse, wie er sie in dem Burgwald gejagt hatte. Doch Durin hatte nicht gewusst, dass die Raubkatzen auch auf diesen Bäumen saßen.
»Natürlich nicht!«, kicherte er und traf keine weiteren Anstalten, sich vor den Luchsen in Sicherheit zu bringen. »Sie sind nur Täuschungen, aber wirklich gut gemacht, AI...«
Verwirrt blickte er auf Albins Ast, aber sein Gegner war verschwunden. Albin hatte das Trugbild genutzt, um sich zu tarnen. Noch immer umschlichen die knurrenden, fauchenden Raubkatzen Durin, der ihnen keine Beachtung schenkte. Auch nicht, als eins der Tiere zum Sprung ansetzte. Erst als der Luchs ihn zu Boden streckte, begriff Durin das ganze Ausmaß von Albins Täuschung: Albin hatte es geschafft, sich das Aussehen eines Luchses zu geben.
Durin stürzte hintenüber, fiel und erwischte einen dünnen Zweig, an dem er sich mit einer Hand festhielt. Nur dieser Zweig, der mehr und mehr nachgab, bewahrte ihn noch vor dem Sturz in die Tiefe.
»Rette mich, Albin, zieh mich hoch!«, flehte er. »Dann werde ich dir die Wahrheit über den Tod deines Vaters erzählen. Ich selbst bin unschuldig daran.«
»Du bist ein guter Lügner, aber nicht gut genug, um dein Leben zu retten«, keuchte Albin, der von seinem Raubkatzensprung noch außer Atem war. »Ich kenne die Wahrheit über König Alwis' Tod, du selbst hast es eben zugegeben.«
Der Zweig knickte noch weiter um und ein panisches Flackern trat in Durins Augen. »Wenn du mich in die Tiefe stürzen lässt, bist auch du ein Mörder!«
»Nein, es ist ein gerechter Kampf gewesen. Ein Kampf, den du gewollt hast.«
Durin blickte ängstlich in die Tiefe und sagte mit fast versagender Stimme: »Ich... werde sterben...«
Albin dachte an das Blutbad, das Durin unter Alwis' Familie angerichtet hatte. Und er dachte an die Folterkammer, in die Durin Egin und so viele andere gebracht hatte.
Er sah Durin an und sagte kalt: »Das Böse kann man nur aufhalten, indem man es auslöscht.«
Mit einem leisen Knacken gab der Zweig nach und Durin schrie auf. Dann fiel er und fiel und fiel...
Albin konnte gar nicht fassen, dass er gesiegt hatte. Sein Atem rasselte, sein Herz raste und in seinen Ohren hörte er noch den Schrei des längst auf dem Boden aufgeschlagenen Elben. Kaum nahm Albin wahr, wie er nach unten kletterte, wo die Nebelkinder sich um den Toten geschart hatten.
Wie aus weiter Ferne hörte er den vielfachen Jubel: »Es lebe unser König, es lebe König Albin!«
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15.
Als Gerswind das dumpfe, rhythmische Läuten der Glocke hörte, wusste sie, dass der Tag ihrer Hinrichtung gekommen war. Noch war es finster draußen, wo die Gestirne am Nachthimmel sich bald verabschieden würden. Ihr Licht reichte nicht aus, um Gerswinds kleine Zelle zu erhellen. Der blasse Schimmer, der durch das winzige, mit zwei Finger dicken Eisenstäben gesicherte Fenster fiel, schaffte es gerade, den kleinen Raum mit einem milchigen Schleier zu überziehen. Wenn Gerswind die Augen öffnete, konnte sie die Umrisse der Zelle mehr erahnen als sehen. Aber es gab auch nicht viel zu sehen. Die schmale Pritsche, auf der sie lag, ein kleiner Tisch mit einer tönernen Wasserschale und ein Kruzifix an der Wand bildeten die gesamte Einrichtung. Die Gefangene war schon so lange hier eingesperrt, dass sie jeden Winkel und jede Kante auch mit geschlossenen Augen vor sich sah.
Mitjedem Tag war ihre Hoffnung auf Rettung mehr geschwunden. Es hatte eine Zeit gegeben, als sie ganz fest damit gerechnet hatte, von Albin befreit zu werden. Albin, der sie sogar aus den Händen der Nebelkinder gerettet hatte. Albin, der selbst ein Kind des Nebels war und für den sie doch mehr empfand
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