Die Nebelkinder
Jahrhunderten. Findigs Spuren!
Er folgte ihnen, aber sehr langsam, um den Vorsprung des Geflohenen zu vergrößern. Er wollte aus dem unterirdischen Labyrinth heraus, doch hatte er nicht vor, Guntram und Wenrich dabei zu helfen, Findig aufzuspüren. Sorgsam achtete er auf den Boden, um die Spur des Elben nicht aus den Augen zu verlieren, aber auch um nicht zu stolpern. Denn an einigen Stellen waren die alten Mauern abgebröckelt und das lose Gestein bildete auf dem Estrich mehr oder minder große Aufhäufungen. Je länger er durch das Wirrsal der Gänge wanderte, desto stärker fror er. Die wärmende Sonne war seit langer Zeit von diesen Gängen ausgesperrt und die ewige Nacht, die hier unten herrschte, griff mit totenkalten Fingern nach Albin.
Zu der Kälte gesellte sich ein unheimliches Gefühl, eine eigenartige Erregung, wie eine Mischung aus Angst und neugieriger Erwartung. Irgendetwas sagte ihm, dass Graf Chlodomers Tod und die Begegnung mit Findig für Albin selbst von großer Bedeutung waren. Er ahnte, spürte, dass in nächster Zeit etwas Einschneidendes in seinem Leben geschehen würde. Es ängstige ihn, weil es mit Tod und Gefahr verbunden war und weil ein glücklicher Ausgang keineswegs gewiss schien. Aber gleichzeitig sah er der Zukunft erwartungsvoll entgegen, da er schon seit langem fühlte, dass er nicht für das Leben eines Knechts geschaffen war. Wäre nicht seine tiefe Zuneigung zu Graman gewesen und wäre Albin als leibeigener Knecht nicht an die Abtei am Mondsee gebunden gewesen, hätte er sich schon längst davongestohlen.
Als die Flamme der Fackel in einem starken Luftzug tanzte und zugleich vor Albin ein zarter hellroter Schimmer auftauchte, wusste er, dass vor ihm das Ende des Ganges lag. Er hockte sich auf einen losen Stein und blieb eine ganze Weile dort sitzen, um noch mehr Zeit für Findig herauszuschinden. Endlich trat er ins Freie und sog gierig die frische Morgenluft ein, die nach dem muffigen Dunst des unterirdischen Labyrinths wie ein Schluck köstlichen Weins nach einer langen Wanderung war.
Zu dieser frühen Stunde, bevor das Morgenlicht sich entfalten konnte, bestand die oberirdische Welt aus großen Flächen von Schwarz, Blau und ein wenig Rot. Das blasse Rot war die Vorhut der Sonne, die selbst noch hinter den Schattenrissen der Berge verborgen lag. Der Himmel über dem Mondseeland zeigte die verschiedensten Spielarten von Blau: hell und fast violett über den Berggipfeln, wo die zaghaften Sonnenstrahlen sich mehr und mehr vortasteten; düster, beinahe schwarz noch hoch oben, wo die zum Sterben verurteilte Nacht sich in großen Wolken festkrallte.
Albin stand auf einer Anhöhe im Westen der Abtei, eine gute Meile von ihr entfernt. Schwarzdorn- und Haselnusssträucher bedeckten den Hügel und verbargen das schräg ins Erdreich führende Loch, durch das er nach draußen gestiegen war. Ein idealer Einstieg zu Findigs Geheimgang und zugleich ein guter Punkt, um das Kloster zu beobachten. Die Abtei war zum morgendlichen Leben erwacht, wovon zahlreiche Lichter kündeten. Auch außerhalb der Klostermauern brannten Kienspäne, in den vereinzelten Hütten der Landpächter, in der zwischen Abtei und See liegenden Handwerkersiedlung und in den Fischerhütten, die das nördliche Ufer säumten.
Das Gebiet rund um die Abtei war nur ein kleiner Teil der klösterlichen Besitztümer. Zu ihnen gehörten etliche verstreut liegende Ländereien, manche davon weit hinter den Bergen, und all das wiederum frommte dem Bischof von Regensburg, dem das Kloster Mondsee zugeeignet war. In Regensburg residierte auch König Arnulf, wenn er sich nicht in seinen Pfalzen Forchheim und Frankfurt aufhielt. Aber für die einfachen Leute hier in den Bergen war nicht die weit entfernte Königsstadt Regensburg der Mittelpunkt ihrer Welt, sondern die Abtei. Sie bot mit ihren festen Mauern und den Soldaten des Vogts Schutz vor räuberischen Überfällen . Das von Graman geführte Siechenhaus war die letzte Hoffnung der Kranken. Die Vorräte in den Speicherhäusern sicherten in Zeiten der Not das Uberleben des ganzen Landstriches. Vieles gaben die Mönche den Menschen, aber alles hatte seinen Preis: Abgaben, die ans Kloster zu leisten waren, und die Verpflichtung der häufig noch tief im alten Heidenglauben verwurzelten Menschen, nur noch dem Christengott zu huldigen und seine Gebote zu achten.
Während Albin die Fackel schwenkte, um Guntram und Wenrich mit ihren Männern ein Zeichen zu geben, glitt sein Blick über
Weitere Kostenlose Bücher