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Die Nebelkinder

Die Nebelkinder

Titel: Die Nebelkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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den Mondsee, eine trübe blaugraue Fläche, über dem dichte Nebelschwaden waberten. Weiter hinten, im Süden, schien sich der See im Nebel aufzulösen und der Nebel wiederum wollte mit den Umrissen der Berge verschmelzen. All das wirkte auf Albin wie ein Land, in dem die Menschen nichts verloren hatten. Die Berge erschienen ihm wie schlafende, versteinerte Riesen, die jeden Augenblick zu neuem Leben erwachen konnten. Der Mondsee und die vielen anderen Gewässer in den Ebenen zwischen den Höhenzügen waren vielleicht nichts anderes als Tränen, vergossen von den Steinriesen aus Schmerz über das Treiben der Menschen, die den Wald rodeten, ihr Vieh auf die grünen Wiesen trieben und den Seen die Fische raubten.
    Seltsamerweise fühlte sich Albin in dieser zwischen ·Traum und Wirklichkeit schwankenden Morgenstunde den Bergen, Wäldern und Seen und ihren angestammten Bewohnern viel näher als den Menschen. Nicht nur in dieser Morgenstunde, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Schon lange spürte er einen starken inneren Drang, die Abtei zu verlassen. Die Welt da draußen schien ihn zu rufen, mit einer Stimme, die stärker war als jedes Menschenwort, stärker noch als der mächtige Klang der bronzenen Kirchenglocke. Bislang hatte er dem Ruf widerstanden, hatte ihn ignoriert und als Traumgespinst abgetan. Doch mit den jüngsten Ereignissen hatte die unheimliche Stimme ein Gesicht bekommen, Findigs Gesicht. Und Albins innere Unsicherheit wich der Erkenntnis, dass es einen triftigen Grund für sein Verlangen gab, die Menschenwelt zu verlassen. Wenn Findig die Wahrheit sprach, und daran hegte er kaum Zweifel, gehörte Albin nicht in diese Welt. Das Land jenseits der Nebelschwaden war seine Heimat: das Land der Nebelkinder.
    Lautes Hufgetrappel riss Albin aus seiner Versunkenheit. Guntram und Wenrich sprengten mit einer Schar Berittener herbei, die sich rund um Albin versammelte. Der heiße Atem der Pferde verdichtete sich in der frischen Morgenluft zu weißen Wölkchen. Ein paar Reiter hielten Fackeln in den Händen, und das Licht spiegelte sich auf dem Metall von Waffen und Rüstungen.
    Wenrich lenkte seine tiefschwarze Stute dicht an Albin heran und beugte sich im Sattel vor. Mit grimmigem Gesicht starrte er den Findling an. »Wir glaubten dich schon verschollen. Was, zum Teufel, hast du da unten getrieben?«
    Albin deutete auf die versteckte Erdhöhle. »Da ist ein wahres Labyrinth, Herr. Wie eine unterirdische Stadt. Wohl noch aus den alten Tagen der Römer. Ich musste den richtigen Weg erst suchen.«
    »So? Und woher weißt du, dass du ihn gefunden hast?«
    »Einen anderen Ausgang konnte ich nicht entdecken. Außerdem fand ich frische Fußspuren, denen ich folgte.«
    Wenrich stieß ein ungehaltenes Schnauben aus, drehte sich dabei im Sattel und ließ seinen Blick über die gesamte Anhöhe schweifen. »Und wohin hat sich der Zwerg verkrümelt?«
    »Das weiß ich nicht, Herr.«
    Graf Guntram, der sich ebenfalls das Gelände angesehen hatte, richtete sich im Sattel seines Braunschecken auf und sagte laut: »Zurück zur Abtei wird er kaum gegangen sein. Auch ist nicht anzunehmen, dass er Helfer im Dorf hat. Er wird in die Berge geflohen sein. Schlecht nur, dass es hier mehr Berge gibt, als man zählen kann.«
    Guntram hatte kaum ausgesprochen, da ertönte Hundegebell und Wenrichs Gesicht hellte sich auf.
    »Gleich sind wir schlauer«, rief der Vogt freudig aus.
    »Das sind Bardo und Egolf, nach denen ich schicken ließ. Sie werden uns den Weg weisen. Verlass dich darauf, Graf Guntram!«
    Ein einzelner Reiter, ein wahrer Klotz von einem Mann, trieb seinen stämmigen Braunen die Anhöhe herauf. Es war Volko, der Hauptmann des Vogts. Zwei Hunde, so groß wie Kälber, waren mit Leinen an seinem Sattel befestigt. Es waren sehnige, kräftige Tiere mit spitzen, wolfsähnlichen Köpfen. In beiden Hunden schien mehr als ein Schuss Wolfsblut zu fließen. Sie hatten beide graues Fell, das sich am Kopf verfärbte, bei einem sehr hell, bei dem anderen Tier dunkel, fast schwarz.
    »Warum hat es so lange gedauert, Volko?«, fuhr Wenrich den muskelbepackten Reiter an. »Hast du unterwegs bei deiner Liebsten an die Tür geklopft?«
    Der Vogt achtete nicht auf Volkos gestammelte Entschuldigung. Geschmeidig glitt er aus dem Sattel und ließ sich vor den Hunden auf die Knie nieder. Die großen Tiere leckten an seinen ausgestreckten Händen wie kleine Welpen, die nach der Muttermilch gierten. » Ja, so ist ‘ s schön, meine braven Jäger.

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