Die Nebelkinder
geht es nicht«, sagte Guntram, der sich ebenfalls erhoben hatte. »Was am See geschah, sollte Gegenstand dieser Untersuchung sein. Nicht, wie viele Zehen einer am Fuß hat!«
»Aber Graf, du selbst hast den Zwerg doch einsperren lassen«, sagte der überraschte Vogt. »Du hast ihn bezichtigt, an der Verschleppung, womöglich an der Ermordung deiner Tochter schuld zu sein.«
Guntrams Antwort verblüffte Wenrich und alle Anwesenden noch mehr: »Ich tat es aus Zorn auf Albin, weil er mich reizte. Aber ich habe keinen Augenblick daran geglaubt. Ich ziehe meine Anschuldigung zurück. Der Gefangene soll sofort freigelassen werden!«
»Das anzuordnen bist du nicht befugt!«, bellte Wenrich.
»Ich bin König Arnulfs Gesandter.«
»Und ich bin der Vogt dieses Landes. Mir obliegt die Rechtsprechung am Mondsee und niemandem sonst. Ist die Anklage einmal erhoben, so liegt alles in meinen Händen.«
Guntram schwieg und ließ sich langsam zurück auf die Bank sinken. Er wusste, dass Wenrich Recht hatte. Und als Gesandter des Königs konnte Guntram nicht das königliche Recht brechen.
»Im Gegensatz zu Graf Guntram halte ich den Angeklagten nicht für unschuldig«, setzte der Vogt seine hasserfüllte Tirade fort. »Warum sollte sich ein Kind des Nebels bei uns in der Abtei einschmuggeln? Doch nur, weil diese Kreatur Böses im Sinn hat!«
»Von Einschmuggeln kann keine Rede sein«, widersprach Graman, den es nicht länger auf seinem Platz hielt. Er trat in die Mitte des Saals und stellte sich neben seinen Zögling. »Ich fand Albin, als er noch kein Jahr alt war, und brachte ihn her. Er wurde getauft und im christlichen Glauben erzogen. Viele von uns leiden an krankhaften Geschwüren oder Missbildungen, aber das macht sie nicht zu schlechteren Christenmenschen. Ich schäme mich für vieles, was hier gesagt wurde. Und ich schäme mich für mich selbst, weil erst dieser heidnische Krieger mir zeigen musste, was rechtes Denken und rechter Mut ist.« Bei den letzten Worten zeigte er auf Arne, der, noch schwach auf den Beinen, zurückgetreten war und sich gegen eine Wand lehnte.
Als Graman Beifall erhielt, rief Wenrich durch den Saal: »Du hast den Knaben gefunden und nicht bemerkt, dass er Teufelsklauen hat statt Füße?«
»Ich sah damals, dass er nur vier Zehen an jedem Fuß hat. Aber ich erblickte darin keinen Grund, ihn für schlecht zu halten oder ihn gar sterben zu lassen.« Graman trat zu den Mönchen und sah sie beschwörend an. »Brüder, die älteren unter euch kennen Albin sein ganzes Leben lang. Hattet ihr jemals Grund, euch über ihn zu beschweren oder ihn für einen schlechten Christen zu halten?«
»Nein, niemals!« - »Bruder Graman spricht wahr.« - »Beurteilen wir Albin nach seinen Taten, nicht nach seinen Füßen!«
Jetzt erhob sich Abt Manegold, nachdem er sich kurz mit dem Dekan beraten hatte: »Ich will Vogt Wenrich nicht in seine Angelegenheiten reden, aber da Albin als Knecht in der Abtei gedient hat, geht die Sache auch mich etwas an. Darum hört meinen Vorschlag. Wir sollten morgen nach dem Mittagsmahl wieder hier zusammenkommen, um die Verhandlung fortzusetzen. Bis dahin sollte Zeit sein, Zeugen für mögliche Schandtaten des Angeklagten beizubringen. Der Austausch von Reden bringt uns nicht weiter, Beweise müssen auf den Tisch. Was sagst du zu meinem Vorschlag, Vogt?«
Wenrich, der einsah, dass er nicht weiterkam, schien fast dankbar. Mit einem Lächeln sagte er: »Abt Manegold spricht mit der Weisheit, die seinem Amt zukommt. Ich bin einverstanden. Bis morgen Mittag bleibt Albin ein Gefangener. Dann wird über sein Schicksal entschieden!«
Der fingerbreite Spalt am unteren Ende der Tür, durch den ein winziger Lichtschimmer in den Verschlag gedrungen war, war längst dunkel geworden, als Albin Schritte, Stimmen und dann das Schaben des Riegels vernahm. Er spürte Durst und Hunger und nahm an, dass man ihm endlich Milch und Käse oder wenigstens Wasser und etwas Brot bringen würde. Und er hoffte, man würde zum Essen seine Armfesseln lösen. Die rauen Hanfstricke schnitten schmerzhaft ins Fleisch, als wollten sie seine auf den Rücken gebundenen Glieder abtrennen.
Eine schemenhafte Gestalt betrat den Verschlag und die Wache draußen schlug die Tür sofort wieder zu. Instinktiv zog der auf dem Boden hockende Gefangene die Beine an und versuchte, die Füße unter seinen Knien zu verbergen. Wann immer er in seinem Leben Gefahr gelaufen war, mit nackten Füßen angetroffen zu werden, hatte er
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