Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
mehr der Reichskanzler, sondern der Kaiser und sein Hof den Mittelpunkt bildeten und die Richtlinien der Innen- und Außenpolitik bestimmten. Diese Interpretation richtet sich in erster Linie gegen Hans-Ulrich Wehler, der in seinem berühmten Kaiserreich-Buch aus dem Jahr 1973 Wilhelm II. auf die Rolle eines »Schattenkaisers« reduziert und sein »Persönliches Regiment« als trügerische Illusion abgetan hat – eine Deutung, die der Bielefelder Sozialhistoriker auch noch im dritten Band seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« (München 1995) im Kern aufrechterhalten hat. Röhl dagegen schildert die Etablierung des »Persönlichen Regiments« als einen Prozess, in dem Wilhelm II. Zug um Zug die Sphäre der kaiserlichen Entscheidungsgewalt erweiterte, bis er als quasi neoabsolutistischer Herrscher nahezu uneingeschränkt schalten und walten konnte. Diesen Eindruck kann der britische Historiker freilich nur erwecken, indem er seine Perspektive auf die höfisch-dynastische Sphäre beschränkt. Gesellschaftliche Strukturen und politische Kräfteverhältnisse werden weitgehend ausgeblendet. Lässt sich die Machtstellung Wilhelms II. angemessen charakterisieren, ohne den exklusiven Status des konservativen preußischen Adels in der Gesellschaft des Kaiserreichs hervorzuheben? Darf man den Reichstag und die Parteien, die industriellen und agrarischen Interessenverbände, die nationalistischen Agitationsvereine, schließlich auch bürgerliche Öffentlichkeit und Presse fast gänzlich außer Acht lassen? Wilhelm II. war gewiss kein »Schattenkaiser«, aber das einzige und allein ausschlaggebende Bewegungszentrum deutscher Politik war er auch nicht.
Dass das Deutsche Reich seit der Jahrhundertwende immer mehr in die Isolierung geriet und sich seit 1907 einer mächtigen Triple-Entente aus England, Frankreich und Russland gegenübersah, führt Röhl ebenfalls in erster Linie auf das unheilvolle Wirken Wilhelms II. und seiner Hofclique zurück. Dabei neigt er dazu, den Einfluss der dynastischen Beziehungen auf die internationale Politik zu überschätzen. Auf vielen Seiten lässt er sich darüber aus, wie das persönliche Verhältnis zwischen Wilhelm und seinem Neffen, dem englischen König Edward VII., sich verschlechterte, bis hin zum offenen Zerwürfnis. Doch nicht Abscheu vor dem unberechenbaren, großmäuligen deutschen Kaiser trieb die britische Regierung dazu, sich mit Frankreich und Russland zu verbünden, sondern die höchst reale Sorge hinsichtlich der wirtschaftlichen und militärischen Stärke des Deutschen Reiches.
Wenn der Kaiser tönte: »Ich bin der einzige Lenker & Herr der deutschen Außenpolitik«, nimmt Röhl das allzu wörtlich. Der Reichskanzler, die Staatssekretäre der Reichsämter, die preußischen Minister, die Diplomaten und hohen Beamten – sie alle erscheinen als ausführende Organe des »Allerhöchsten Willens«, gewissermaßen als Puppen, die nach der Pfeife Seiner Majestät tanzen mussten. Das komplizierte Kräftefeld gesellschaftlicher Interessen und politischer Institutionen, innerhalb dessen sich der Monarch bewegen musste und das seinen autokratischen Gelüsten Grenzen setzte, wird weitgehend ausgeblendet. Stattdessen wird Röhl nicht müde, die abstoßenden Formen der Liebedienerei zu geißeln, wie sie in der kaiserlichen Entourage gang und gäbe waren.
Auch auf dem Weg Deutschlands in den Weltkrieg sieht Röhl den Kaiser als die treibende Kraft. Durch eine Vielzahl von Dokumenten sucht er zu belegen, dass Wilhelm seit Beginn der Balkankriege im Oktober 1912 kriegsbereit war, ja sich entschlossen zeigte, den großen Krieg bei der ersten besten Gelegenheit vom Zaune zu brechen. Vom notwendigen »Endkampf zwischen Slawen und Germanen« war in seinen berüchtigten Randbemerkungen tatsächlich mehr als einmal die Rede. Es fragt sich allerdings, ob von den martialischen Äußerungen des Kaisers umstandslos auf die Ernsthaftigkeit seiner Absichten geschlossen werden kann. Anders als Röhl waren sich die führenden Politiker und Generäle im kaiserlichen Deutschland keineswegs sicher, ob der Oberste Kriegsherr nicht dann, wenn es wirklich hart auf hart ginge, vor dem Risiko eines Weltkriegs zurückschrecken würde. Nur so ist ja auch die Strategie der deutschen Reichsleitung in der Julikrise 1914 zu verstehen, den Kaiser vom Zentrum der Entscheidungen fernzuhalten, indem er auf seine traditionelle Nordlandreise geschickt wurde.
Eindrucksvoll schildert Röhl den dramatischen
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