Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
der Bismarck-Mythos nach dem Ende der Hohenzollernmonarchie 1918 einen fundamentalen Funktionswandel erlebte: Hatte er zuvor dazu gedient, das bestehende gesellschaftliche und politische System des Kaiserreichs zu legitimieren, so wurde er nun zu einer Waffe im Kampf gegen die neue Demokratie von Weimar. »Zurück zu Bismarck« – das war der Schlachtruf, auf den sich die Weimarer Rechte – Deutschnationale, Völkische und Antisemiten – rasch verständigen konnte, und er erscholl, wie der Autor zeigt, in allen großen politischen Debatten zwischen 1918 und 1933. So trug der Bismarck-Mythos nicht unwesentlich dazu bei, die Legitimität der Weimarer Republik zu untergraben, indem er antiparlamentarische Ressentiments schürte und die Sehnsüchte vieler Deutscher nach einem »Retter«, einer charismatischen Führerfigur, mobilisierte.
II.
Innere Reichsgründung und Globalisierung
Anfang Juli 1876 behaupteten drei Mädchen aus Marpingen, einer kleinen Gemeinde im Saarland, ihnen sei die Jungfrau Maria erschienen. Die Nachricht über das »Wunder« verbreitete sich in Windeseile. Bereits nach einer Woche strömten Tausende von Pilgern in das »deutsche Lourdes«, wie das Dorf bald genannt wurde. In einer eindrucksvollen Untersuchung ist der britische Historiker David Blackbourn dem Phänomen nachgegangen: »›Wenn ihr sie seht, fragt wer sie sei‹. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes« (Reinbek bei Hamburg 1997). Die denkwürdigen Ereignisse in Marpingen dienen dem Autor als Kulisse, vor der er ein großartiges Panorama von Gesellschaft und Politik des Bismarckreichs zur Zeit des »Kulturkampfes« entfaltet. Blackbourn wendet sich dagegen, die Marienerscheinungen als bloßes Symptom eines bedauerlichen Irrationalismus oder eines schlimmen Rückfalls in mittelalterlichen Aberglauben abzutun. Vielmehr nimmt er sie ernst als Ausdrucksform einer neuen Volksfrömmigkeit in Reaktion auf die staatliche Verfolgung der Katholiken. »Historiker dürfen sich gegenseitig auslachen oder tadeln«, begründet er seinen Ansatz, »was sie nicht sollten, ist, sich auf Kosten der historischen Akteure ein billiges Vergnügen zu verschaffen oder sie über ihre Fehler und Irrtümer aufzuklären.« Bemerkenswert ist, wie gekonnt hier Mikro- und Makrogeschichte zusammengeführt werden, wie über die Betrachtung des »kleinen Falles« die übergreifenden Strukturen und Prozesse keineswegs aus dem Blick geraten. Kurzum: ein kulturgeschichtliches Glanzstück – und ein erhellender Beitrag zur Frühgeschichte des Kaiserreichs.
Der »Kulturkampf« verzögerte die Integration der katholischen Bevölkerung ins Bismarckreich. Dass dennoch mächtige Prozesse in Richtung einer inneren Reichsgründung wirkten, belegt Siegfried Weichlein in seiner innovativen Studie »Nation und Region« (Düsseldorf 2004). 1871 war der äußere Rahmen für den Nationalstaat geschaffen, aber – so Weichlein – es gab in großen Teilen der Bevölkerung noch kein nationales Gemeinschaftsbewusstsein und keine Reichsloyalität. Vielmehr hielten sich zunächst hartnäckig ältere For men eines regionalen Sonderbewusstseins. Diese für den neuen Nationalstaat anschlussfähig zu machen, sei eine der großen Herausforderungen deutscher Politik nach der Reichsgründung gewesen. Weichlein beschreibt, auf welchen Ebenen und mit welchen Mitteln diese Aufgabe in Angriff genommen wurde. Eine besondere Rolle weist er dabei der Ausweitung von Verkehr und Kommunikation mittels Bahn und Post, der Vereinheitlichung des Rechts und der Verwaltung sowie der Konsensstiftung durch Volksschulerziehung und politische Feiern zu. Wichtig ist der Befund, dass der innere Ausbau des Nationalstaats insgesamt nicht zu einer Schwächung der Regionen führte. »Die staatlich verfasste Region und der Nationalstaat konstituierten sich gleichzeitig, teilweise als Verbündete in gemeinsamer Vorteilsbildung, teilweise in gegenstrebigen Prozessen.«
Einen umgekehrten Weg schlägt eine neue Forschungsrichtung ein, die den Nationalstaat als Analyserahmen überschreiten und das Kaiserreich in transnationaler Perspektive beleuchten will. In dem gemeinsam von ihnen herausgegebenen Band »Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914« (Göttingen 2004) haben Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel diesen Anspruch erstmals programmatisch formuliert. Der deutsche Nationalstaat – so heißt es – sei »in dem Moment auf die
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