Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
Bedeutungsverlust Wilhelms II. im Kriege, und er spart auch das letzte Kapitel, die immerhin noch 21 Jahre währende Zeit im Doorner Exil, nicht aus. Dabei kann er nachweisen, dass Wilhelms Antisemitismus, der sich bereits vor seiner Abdankung 1918 deutlich radikalisiert hatte, in den zwanziger Jahren zunehmend genozidale Züg annahm. Dass die Juden »vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet« werden müssten, hat er immer weder in Briefen und Gesprächen gefordert, ja im August 1928 auf gespenstische Weise vorgedacht, was unter Hitlers Herrschaft im Zweiten Weltkrieg grauenvolle Wirklichkeit werden sollte: »das Beste wäre wohl Gas«.
In seinem Buch »War der Kaiser an allem schuld? Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten« (München 2003) versucht Wolfgang J. Mommsen (er starb im August 2004), zwischen den Deutungen Wehlers und Röhls zu vermitteln. Er bestreitet nicht die große Machtfülle Wilhelms II. und die schädlichen Folgen seines persönlichen Herrschaftsstils. Zugleich aber wendet er sich dagegen, ihn zum Allein- oder auch nur Hauptverantwortlichen für das Scheitern der deutschen Außen- und Innenpolitik vor 1914 zu erklären. Vielmehr müsse nach dem Anteil der preußisch-deutschen Führungsschichten am Debakel des »Persönlichen Regiments« gefragt werden. Denn bei näherem Hinsehen zeige sich, dass der Kaiser auf wichtige politische Entscheidungen in geringerem Maße Einfluss genommen habe, als schon die Zeitgenossen glaubten. Diese These kann Mommsen durchaus pausibel belegen, auch wenn kritisch anzumerken ist, dass er es versäumt, den Begriff der »preußisch-deutschen Machteliten« inhaltlich zu präzisieren. Am aufschlussreichsten ist das Kapitel über die Ära Bülows, seit 1897 Staatssekretär des Äußeren und von 1900 bis 1909 Reichskanzler. Bülow, der wilhelminische Blender par excellence, habe es besser verstanden als seine drei Vorgänger Bismarck, Caprivi und Hohenlohe-Schillingsfürst, dem Kaiser das Gefühl zu geben, er halte alle Fäden in der Hand, während Bülow ihn in Wirklichkeit lenkte, ja als Speerspitze für seine ehrgeizige Weltmachtpolitik instrumentalisierte.
An diese Deutung schließt der englische Historiker australischer Herkunft, Christopher Clark, in seiner konzisen Biographie »Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers« (München 2008) an. Er bezeugt seinem Kollegen Röhl viel Respekt für seine imponierende Forschungsleistung, betont aber ebenfalls die Grenzen, die dem »Persönlichen Regiment« des Monarchen im komplexen politischen System des Kaiserreichs gezogen waren. Clarks Absicht ist nicht, den letzten deutschen Kaiser zu rehabilitieren, wohl aber ihn zu entdämonisieren und »Verunglimpfung und Verständnis wieder in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen«. Einen besonderen Akzent legt Clark auf Wilhelms Umgang mit der Öffentlichkeit. Er nennt ihn einen »Medienmonarchen«, und prägte damit einen Begriff, an den deutsche Historiker anknüpfen sollten.
»Zeitgenossen, blicken Sie, mit mir, auf den Redner Wilhelm von Hohenzollern: um zu erkennen, ein wie unendlich langer Weg bis zur Vervollkommnung der Menschheit vor uns liegt«, schrieb der Theaterkritiker Alfred Kerr 1898. Tatsächlich waren die vielen anstößigen Reden Wilhelms ein konstitutives Merkmal seines »Persönlichen Regiments«. Zum ersten Mal systematisch untersucht werden sie von Michael A. Obst: »›Einer nur ist Herr im Reiche‹. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner« (Paderborn 2010). Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Wirkungen der kaiserlichen Reden im politischen System des Kaiserreichs. Dabei gelangt der Autor zu einem widersprüchlichen Befund: Einerseits habe es Wilhelm verstanden, »diffuse öffentliche Stimmungen aufzugreifen und in prägnanten, politisierbaren Schlagworten Ausdruck zu geben«. Andererseits habe er mit seinen rhetorischen Eskapaden immer wieder auch für skandalträchtige Auftritte gesorgt und dem Ansehen der Monarchie schwer geschadet.
In seinem Buch »Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie« (Berlin 2005) bringt Martin Kohlrausch zusammen, was bisher getrennt behandelt wurde: die höfische Sphäre der Hohenzollern, die unter Wilhelm II. eine monströse Spätblüte erlebte, und die Massenmedien, die sich um die Jahrhundertwende rasch entwickelten. Die Wechselbeziehung zwischen den beiden Welten wird anhand von Skandalen
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