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Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Titel: Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ullrich
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Tagebücher, die der Kronprinz von seinem 16. Lebensjahr, seit den revolutionären Märztagen 1848, bis zu seinem Tode am 15. Juni 1888 geführt hat. Die Forschung hat dem umfangreichen Tagebuchwerk nur wenig Beachtung geschenkt. Zwar besorgte Heinrich Otto Meissner 1929 eine Auswahl für die Jahre von 1848 bis zum preußisch-österreichischen Krieg 1866. Doch eine Edition, die den entscheidenden Zeitraum zwischen 1866 und 1888 umspannt, stand bislang aus. Diese Lücke hat der Mainzer Historiker Winfried Baumgart mit seiner Auswahledition geschlossen: »Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866–1888« (Paderborn 2012).
    Nach dieser Veröffentlichung kann es keinen Zweifel mehr geben: Die Vorstellung, dass mit Friedrich III. an der Spitze ein neues, fort schrittliches Zeitalter in Preußen-Deutschland heraufgezogen wäre, gehört ins Reich der Legenden. Die Sympathien des Kronprinzen für die liberalen Ideen seiner Frau, der ältesten Tochter von Queen Victoria und Prinz Albert, gingen keineswegs so weit, dass er einen Systemwechsel bis hin zum Parlamentarismus angestrebt hätte. Obwohl er Kontakte zu freisinnigen Politikern pflegte, blieb er dem militärischen Milieu am preußischen Königshof stark verhaftet. Noch wichtiger freilich war, dass ihn die unerwartet lange Wartezeit auf die Thronnachfolge allmählich zermürbt und seinen Willen, Bismarcks diktatorischem Machtanspruch entgegenzutreten, gelähmt hatte. »Sonach entscheidet der Wille oder besser die Laune eines einzigen Menschen, lediglich u(nd) ausschließlich über Wohl und Wehe eines großen Volkes«, zog er im April 1879 Bilanz. »Werde ich Kraft u(nd) Zähigkeit haben hier Wandel und Besserung dermaleinst zu schaffen, u(nd) Land wie Volk in ruhige, gesetzmäßige Bahnen zurückzuführen?« Diese Frage beantwortete der Kronprinz selbst. Im Juli 1885 lud er Bismarck nach Potsdam ein und traf mit ihm ein geheimes Arrangement: Der Reichskanzler erhielt die feste Zusicherung, auch unter dem Nachfolger Wilhelms I. im Amt bleiben und seine bisherige Politik ungehindert fortsetzen zu können. Deutlicher hätte die Resignation der einstigen Hoffnungsgestalt der Liberalen nicht zum Ausdruck gebracht werden können. Von einer Kurskorrektur im Innern war keine Rede mehr, und Bismarck musste auch nicht mehr fürchten, dass die anglophilen Tendenzen des Kronprinzenpaares im Falle eines Thronwechsels die fein gesponnenen Netze seiner Außenpolitik verwirren könnten.
    Dass es dennoch lohnt, sich mit der Figur des Kronprinzen näher zu beschäftigen, beweist die erste wissenschaftliche Biographie von Frank Lorenz Müller: »Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen. Prinz, Monarch, Mythos« (München 2013). Dem an der Universität St. Andrews in Schottland lehrenden Historiker geht es nicht nur darum, die bis heute fortwirkende Ansicht, Kaiser Friedrich hätte, wäre ihm eine längere Regierungszeit beschieden gewesen, der deutschen Geschichte eine andere Richtung geben können, als Mythos zu entlarven. Vielmehr möchte er über die Auseinandersetzung mit Friedrichs Lebensgeschichte Aufschlüsse erhalten über die Funktionsweise der Hohen zollernmonarchie. Er zeigt, dass der Kronprinz einerseis für die Ideen eines gemäßigten Liberalismus offen war, andererseits aber auch den militärischen Traditionen der preußíschen Dynastie verpflichtet blieb und romantisch-mittelalterlichen Vorstellungen vom deutschen Kaisertum anhing. Eindrucksvoll arbeitet der Autor die Diskrepanz heraus zwischen der enormen Popularität, die der liebevoll »Unser Fritz« genannte Thronfolger in der Bevölkerung genoss, und der Geringschätzung seiner politischen Befähigung, die ihm in seinem Umfeld, von seiner Frau »Vicky« abgesehen, entgegengebracht wurde – eine Diskrepanz, die sich auch noch im Kampf um sein Andenken nach 1888 fortsetzen sollte.
    Schon bald nach Bismarcks Entlassung 1890, mehr noch nach seinem Tode 1898 setzte ein blühender Kult um den »Reichsgründer« ein. Er wurde zum »Eisernen Kanzler« stilisiert und damit zur Leitfigur eines überhitzten Nationalismus erhoben. Robert Gerwarth beleuchtet in seiner aufschlussreichen Untersuchung »Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler« (München 2007) die Entstehung und Wirkungsweise der Legendenbildung um Bismarck. Vor allem geht er der Frage nach, inwieweit die politische Kultur Deutschlands seit dem Kaiserreich davon geprägt oder richtiger: deformiert wurde. Schlüssig weist er nach, dass

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