Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
dann ein abruptes Ende fand, als Rom zu Beginn des Krieges seine Neutralität verkündete und im Mai 1915 sogar auf seiten der Triple-Entente in den Krieg gegen die Mittelmächte eintrat. Über den Dreibund ist viel geschrieben worden, zumeist aus deutscher oder österreichischer Perspektive. Der Vorzug von Afflerbachs Arbeit ist, dass sie, gestützt auf eine umfassende Auswertung auch der römischen Archive, der italienischen Politik besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Entgegen der verbreiteten Annahme, Italien sei ein notorisch unzuverlässiger Verbündeter gewesen und habe die Allianz niemals wirklich ernst genommen, kann der Autor zeigen, dass der Dreibund von allen gesellschaftlichen Kräften Italiens befürwortet, ja zu einem »Grundbestandteil des gesamten politischen Lebens« wurde. Allerdings macht Afflerbach auf ein Kernproblem aufmerksam, das die Allianz von Anfang an belastete: Italien galt in den Augen seiner beiden Partner als ein Verbündeter zweiter Klasse, und es wurde auch so behandelt. Seit der ersten Marokko-Krise 1905/06, als Italien aus der Solidarität des Bündnisses ausscherte, mehrten sich die Zweifel, ob es im Kriegsfall seinen Verpflichtungen nachkommen werde. Das Wort von den »verbündeten Feinden« machte die Runde. Umso mehr überrascht, dass Afflerbach dem Dreibund dennoch eine wichtige Rolle bei der Bewahrung des Friedens in Europa vor 1914 zuschreibt. Mehr noch: Auch in der Formierung des Gegenbündnisses zum Dreibund, der Triple-Entente, erkennt er ein »Element der Entspannung«, weil dadurch das Gleichgewicht der Mächte wiederhergestellt worden sei. Der Autor spricht sogar von »einem europäischen Konsens, einen großen Krieg zu vermeiden und statt dessen den friedlichen Ausgleich zu suchen«.
Auch hier stellt sich jedoch die Frage, warum dann der lokale Krieg Österreich-Ungarns gegen Serbien Ende Juli 1914 innerhalb weniger Tage zum Weltkrieg eskalierte. Afflerbach führt dies in erster Linie auf Fehleinschätzungen der Politiker in Berlin und Wien zurück, die geglaubt hätten, ihr riskantes Manöver unterhalb der Schwelle eines großen Krieges durchziehen zu können. Doch damit bleibt immer noch unbeantwortet, wieso es zu einer so gravierenden Fehleinschätzung kommen konnte. Afflerbach unterschätzt den Einfluss, den die deutschen Militärs vor und während der Julikrise auf das Handeln der politischen Reichsleitung ausübten. Ihr Drängen auf einen Präventivkrieg sollte, worauf Dieter Hoffmann jüngst zu Recht hingewiesen hat (»Der Sprung ins Dunkle oder Wie der 1. Weltkrieg entfesselt wurde«, Leipzig 2010), die Entscheidungen des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg in starkem Maße bestimmen.
Der Versuch, das Modell der Entspannungspolitik auf das internationale System vor 1914 zu übertragen, kann nicht überzeugen. Ohne eine Berücksichtigung der ökonomischen Interessen, der gesellschaftlichen Strukturen, der mentalen Dispositionen ist der Weg in den Weltkrieg nicht zu erklären. Immerhin verdanken wir den neueren Forschungen die Einsicht, dass der Kriegsausbruch kein zwangsläufiges Resultat der internationalen Entwicklungen vor 1914 war, dass es gegenläufige Tendenzen gab, auch wenn sich diese am Ende nicht durchsetzen konnten. Das Bild der Vorkriegspolitik wird dadurch vielschichtiger und widersprüchlicher, ohne dass die Hauptverantwortung der deutschen Reichsleitung für die Auslösung des Krieges in Frage gestellt würde.
Eben dies versuchte das enfant terrible unter den britischen Historikern, Niall Ferguson, bereits 1998 mit seinem provokanten Buch »The Pity of War« (deutsch: »Der falsche Krieg«, Stuttgart 1999), das die Vorgeschichte des Weltkriegs in eine neue Perspektive rücken wollte. Nach Ferguson war der Erste Weltkrieg ein tragischer Irrtum, der allen Seiten, auch den Siegern, einen zu hohen Preis abforderte. Sein Vorwurf richtet sich in erster Linie an die Adresse des eigenen Landes, Großbritannien. Es hätte Anfang August 1914 nicht in den Krieg eintreten, sondern neutral bleiben sollen. Was aber wäre dann geschehen? Die Antwort ist verblüffend: Deutschland hätte, im Bunde mit Österreich-Ungarn, Frankreich und Russland rasch besiegt und damit freie Hand gehabt, den Kontinent nach seinen Vorstellungen zu ordnen. Das heißt für Ferguson: Es hätte schon damals einen Zustand herstellen können, der dem der heutigen Europäischen Union ähnlich gewesen wäre – eine auf den mitteleuropäischen Wirtschaftsbund begründete
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