Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
Hegemonie Deutschlands. Der Zusammenbruch Russlands, die Schrecken des Bürgerkriegs und des Stalinismus wären Europa erspart geblieben, ebenso der Faschismus, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust.
Eine interessante Spekulation. Doch sie übersieht, dass die englische Regierung sich aus wohlerwogenen Gründen entschloss, in den Krieg gegen die Mittelmächte einzutreten. Schließlich konnte sie kaum untätig zusehen, wie der Hauptrivale, das deutsche Kaiserreich, das balance of power -Prinzip außer Kraft setzte und seine Vorherrschaft auf dem Kontinent errichtete. Natürlich kennt Ferguson diese Achillesferse seines kontrafaktischen Szenarios. Deshalb bemüht er sich nach Kräften, die Rivalität zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien vor 1914 herunterzuspielen. Deutschlands auftrumpfende »Weltpolitik« sei für das Inselreich keine Bedrohung gewesen, auch nicht der Bau der deutschen Schlachtflotte, die rein defensiven Zwecken gedient habe. An der »Einkreisung« war demnach die deutsche Reichsleitung gänzlich unschuldig; sie war das Werk englischer Missgunst! Dem englischen Außenminister Sir Edward Grey wirft Ferguson nicht nur vor, ein appeasement gegenüber Russland betrieben, sondern die deutsche Regierung bewusst über die englische Haltung im Falle eines Krieges getäuscht zu haben. Dadurch habe er die Neigung deutscher Militärs und Politiker zum Präventivkrieg entscheidend gefördert. Mit dieser Sicht der Dinge dreht Ferguson den Erkenntnisprozess der Forschung hinter die »Fischer-Kontroverse« der 1960er Jahre zurück. Zu Recht ist sein Buch auf die nahezu einhellige Ablehnung unter deutschen Fachhistorikern gestoßen.
Anders verhält es sich mit dem neuen Werk von Christopher Clark: »The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914« (London 2012), das bereits vor dem Erscheinen der deutschen Übersetzung im Herbst 1913 ( »Die Schlafwandler«, München 2013) als wichtigstes Buch zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns 2014 bezeichnet worden ist (Gerd Krumeich in: Süddeutsche Zeitung v. 30. 11. 2012; Holger Afflerbach in: Der Spiegel v. 24. 9. 2012). Der Cambridge-Historiker hat sich noch einmal in die Archive begeben und hier neue Quellen, unter anderem in russischer und serbischer Sprache, erschlossen. Auch Clark wendet sich explizit gegen die These, dass es in erster Linie das Deutsche Kaiserreich gewesen sei, das mit seinen Weltmachtambitionen Europa in den Abgrund des Krieges gestürzt habe. Im Unterschied zu Ferguson sucht er die Schuld jedoch nicht bei Großbritannien, sondern bei allen beteiligten Großmächten. Er spricht zwar die deutsche und österreichisch-ungarische Regierung keineswegs von jeder Verantwortung frei, beleuchtet aber die Politik Frankreichs, Russlands und Englands ebenso kritisch. Besonders hart geht er mit der serbischen Regierung ins Gericht, die, wie er glaubt nachweisen zu können, in die Attentatspläne der terroristischen Organisation »Schwarze Hand« gegen das österreichisch-ungarische Thronfolgerpaar eingeweiht war. Der Titel des Buches »Die Schlafwandler« bringt die These des Autors auf den Punkt: Auf allen Seiten hätten die verantwortlichen Staatsmänner den Krieg im Grunde nicht gewollt, allerdings auch keine ernsthaften Schritte unternommen, ihn zu verhindern. Jeder hätte sich falsche Bilder von den Intentionen der jeweils anderen Seite gemacht, und allesamt hätten sie die Dimension der Katastrophe unterschätzt, die der moderne Krieg mit seinen Massenvernichtungswaffen nach sich ziehen würde. Im Ergebnis läuft Clarks Deutung auf eine Wiederbelebung der alten Vorstellung vom »Hineinschlittern« der Mächte in den Weltkrieg hinaus, wie sie der ehemalige britische Premierminister David Lloyd George Anfang der 1920er Jahre formuliert hatte – eine Auffassung, die man nach der »Fischer-Kontroverse« endgültig überwunden glaubte.
Das Gegenstück zu Clarks Interpretation bietet Konrad Canis’ weitausholende Darstellung »Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914« (Paderborn 2011), mit der er seine dreibändige Geschichte der deutschen Außenpolitik von 1870 bis 1914 abschließt. An der Hauptverantwortung der deutschen Reichsleitung für den Krieg lässt Canis nicht rütteln. Den deutschen Blankoscheck an Österreich-Ungarn vom 5./6. Juli 1914 bezeichnet er als den »flagranten Fehler, der alle weiteren Fehler nach sich zog«. Von Anfang an habe die Führung in Berlin das Risiko einkalkuliert, dass aus der
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