Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
militärischen »Strafaktion« gegen Serbien der große Krieg hervorgehen würde. Allerdings beantwortet Canis die Motivfrage anders als Fritz Fischer: Nicht aus einem auf die Hegemonie in Europa gerichteten Eroberungsdrang habe die Reichsleitung das Kriegsrisiko auf sich genommen, sondern im Gegenteil: um einer vermeintlichen Bedrohung seiner Großmachtposition zuvorzukommen. Es habe sich also nicht um einen Hegemonialkrieg, sondern um einen Präventivkrieg gehandelt, wobei der Autor auf seiten des Reichskanzlers Bethmann Hollweg »Fatalismus, ja die blanke Verzweiflung« am Werke sieht. Es fragt sich freilich, ob die Bedrohungsszenarien, wie sie vor allem die Militärs an die Wand malten, nicht weit übertrieben waren. Jedenfalls gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Ententemächte für 1916/17 einen Angriffskrieg planten. Verbargen sich vielleicht hinter der defensiven Motivation nicht auch offensive Ziele?
Seit Gerhard Rittters Studie »Der Schlieffen-Plan. Kritik eines Mythos« (München 1956) herrschte in der deutschen und internationalen Forschung Konsens über die Frage der operativen Vorbereitungen für den Zweifrontenkrieg. Demnach sollte die Masse des deutschen Heeres zunächst im Westen angreifen und das französische Heer in einer großen Umfassungsbewegung vernichten, um danach den Schwerpunkt der Kriegführung nach Osten zu verlegen und Russland zu besiegen. Diese Deutung wurde vor einigen Jahren vom amerikanischen Historiker und ehemaligen Major des US-Armee, Terence Zuber, radikal in Frage gestellt: »Inventing the Schlieffen Plan. German War Planning 1871–1914« (Oxford–New York 2003). Er vertritt die Auffassung, beim Schlieffen-Plan habe es sich um einen reinen »Mythos«, eine »Erfindung« ehemaliger Generalstabsoffiziere gehandelt, die sich nachträglich hätten reinwaschen wollen. Im Herbst 2004 veranstaltete das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam eine Tagung, um die provokative These Zubers zu diskutieren. Die Beiträge liegen in einem von Hans Ehlert, Michael Epkenhans und Gerhard P. Groß herausgegebenen Band »Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente« (Paderborn 2006) vor. Annika Mombauer, die selbst mit einer beachtlichen Studie über den Nachfolger Schlieffens hervorgetreten ist: »Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War« (Cambridge 2001), betont den offensiven Charakter der deutschen militärischen Planungen vor 1914, und auch Herausgeber Groß weist die These Zubers entschieden zurück: Es gab die von Schlieffen entwickelte grundlegende operative Doktrin, an der auch Moltke trotz einiger Modifizierungen unbeirrt festgehalten habe. In diesem Band werden erstmals die Aufmarschpläne veröffentlicht, die bislang als verschollen galten. Damit wird die Diskussion über die Entwicklung des operativen Denkens im deutschen Generalstab vor 1914 auf eine solide Grundlage gestellt.
Ein interessantes Kapitel der internationalen Diplomatiegeschichte, über dessen Bedeutung für die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs heftig diskutiert wurde, schlägt Stephen Schröder auf: »Die englisch-russische Marinekonvention. Das Deutsche Reich und die Flottenverhandlungen der Tripelentente am Vorabend des Ersten Weltkriegs« (Göttingen 2006). Im Mai 1914 stimmten die Briten Verhandlungen über ein geheimes Marineabkommen mit Russland zu, das für den Kriegsfall koordinierte Aktionen der Flotten, unter anderem ein gemeinsames Landungsunternehmen in Pommern, ins Auge fasste. Über einen Informanten in der russischen Botschaft in London war die deutsche Reichsleitung über die Verhandlungen unterrichtet. Schröder rekonstruiert nicht nur den Gang der Verhandlungen, sondern geht vor allem der Frage nach, welche Rückwirkung das Bekanntwerden der Pläne auf die deutsche Reichsleitung hatte und inwieweit es ihre Haltung in der Julikrise 1914 beeinflusste. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die englisch-russischen Marinegespräche die Bereitschaft der deutschen Politik, bewusst das Risiko eines Weltkriegs einzugehen, erheblich verstärkten, allerdings nicht als ursächlicher oder auch nur entscheidender Faktor für den Entschluss zum Krieg in Rechnung zu stellen seien. Mit dieser abgewogenen, klug argumentierenden Arbeit dürfte einer der umstrittensten Komplexe in der Kriegsursachenforschung endgültig geklärt sein.
Im August 1914 zogen die Deutschen begeistert in den Krieg: Diese zum Klischee erstarrte Vorstellung wurde durch eine Reihe von Lokalstudien zunehmend
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