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Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Titel: Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ullrich
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in Frage gestellt. Durch die Pionierarbeit von Jeffrey Verhey: »Der ›Geist von 1914‹ und die Erfindung der Volksgemeinschaft« (Hamburg 2000) ist sie endgültig ins Reich der Legenden verwiesen worden. Der amerikanische Historiker stützt sich vor allem auf eine gründliche Auswertung der zeitgenössischen Presse, die, wie er hervorhebt, »im allgemeinen eine feine Witterung für die Gesinnung und Stimmung ihres Leserkreises« hatte. Wenn man bedenkt, wie vielfältig das wilhelminische Zeitungswesen war, kann man ermessen, welcher Arbeit sich der Autor unterziehen musste. Das Quellenverzeichnis weist 85 Periodika aus – von den großen Hauptstadtzeitungen bis zu kleinen Provinzblätttern. Die Anstrengung hat sich gelohnt. Zum ersten Mal liegt hier eine Untersuchung vor, welche die Entwicklung der öffentlichen Meinung in Deutschland in den Monaten Juli und August 1914 umfassend beschreibt und deutet. Die Befunde werden nach zeitlichen Phasen, sozialen Grupppen und Klassen, politischen Parteien sowie lokalen und regionalen Gegebenheiten differenziert. Darüber hinaus wird überzeugend der Prozess der Mythenbildung rekonstruiert und gezeigt, wie aus dem »Augusterlebnis« der »Geist von 1914« wurde, welchen Gebrauch die amtliche Propaganda davon machte und wie dieser Mythos auch noch nach 1918 fortwirkte.
    VII.
    Die Urkatastrophe des 20 . Jahrhunderts
    Im kollektiven Gedächtnis von Franzosen und Briten hat der Erste Weltkrieg – »La Grande Guerre« oder »The Great War«, wie sie ihn nennen – seit jeher eine bedeutende Rolle gespielt. Anders in Deutschland: Hier stand die Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust so sehr im Vordergrund, dass die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg darüber eher verblasst ist. Das scheint sich zu ändern. 2004, als sich der Kriegsbeginn zum 90. Mal jährte, präsentierte das Deutsche Historische Museum in Berlin eine große historische Ausstellung. Begleitet wurde sie von einer Flut neuer Bücher und TV-Dokumentationen. 2014, wenn der 100. Jahrestag ansteht, werden wir voraussichtlich eine weitere Steigerung des medialen Erinnerungs- und Gedächtnisbooms erleben.
    Zweifellos hat das neue Interesse etwas zu tun mit dem wachsenden zeitlichen Abstand, der die nachwachsenden Generationen vom Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust trennt. Mit der unvermeidlichen Historisierung des Nationalsozialismus wird der Blick frei für die unerhörten Gewalt- und Leidenserfahrungen, die auch schon die Kriegsjahre von 1914 bis 1918 charakterisierten. Der Erste und der Zweite Weltkrieg rücken in dieser Perspektive näher zuammen. Ob man des halb von einem »Zweiten Dreißigjährigen Krieg« sprechen kann, wie Hans-Ulrich Wehler, einen Begriff des französischen Sozialwissenschaftlers Raymond Aron aufgreifend, im vierten Band seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« (München 2003) vorgeschlagen hat, steht dahin. Aber dass mit dem Epochenbruch des Ersten Weltkriegs Entwicklungen freigesetzt wurden, die den Zündstoff für einen zweiten Weltenbrand in sich bargen, das wird nun immer deutlicher. Allerdings ist es nicht mehr die politische oder militärische Geschichte des Krieges, sondern seine kulturelle Dimension, die seit einiger Zeit den größten Reiz auf Historiker ausübt. »Erfahrung« und »Erinnerung« sind die neuen Leitbegriffe; nach Mentalitäten und Mythen wird insistierend gefragt, und zwar über alle nationalen Grenzen hinweg. (Vgl. Antoine Prost/Jay Winter: »The Great War in History. Debates and Controversies, 1914 to the Present«, Cambridge 2005; zuerst in französischer Sprache: »Penser la Grande Guerre. Un essai d’historiographique«, Paris 2004.)
    Als »transnationale Kulturgeschichte« versteht sich auch das Buch von John Horne und Alan Kramer: »Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit« (Hamburg 2004). Die in Dublin lehrenden Historiker gehen einer der ungeklärten Fragen der Weltkriegsforschung nach: Was hat es mit den Kriegsverbrechen auf sich, die deutsche Truppen in den ersten Wochen nach dem völkerrechtswidrigen Einfall ins neutrale Belgien verübt haben sollen? Tag für Tag, Ort für Ort verfolgen sie die Spuren der Gewalt und Vernichtung: Nach ihren akribischen Berechnungen wurden zwischen August und Oktober 1914 6427 Zivilisten, darunter auch Frauen und Kinder, umgebracht und an die 20000 Häuser zerstört.
    Wie konnte es zu diesen Gewaltexzessen kommen? Die Erklärung ist ebenso einfach wie einleuchtend: Die deutschen

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