Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
Soldaten waren, als sie in Belgien einmarschierten, von der Vorstellung beherrscht, überall auf Freischärler zu stoßen, die heimtückisch aus dem Hinterhalt operierten. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, in dem so genannte franctireurs tatsächlich in großer Zahl gegen die Invasionstruppen gekämpft hatten. In Belgien kam es zwar ganz vereinzelt auch zu Attacken auf die Eindringlinge, doch von einem breiten Widerstand der Zivilbevölkerung konnte keine Rede sein. Unter den Deutschen war die Einbildung jedoch stärker als die Wirklichkeit. Es handelte sich nach Horne/Kramer um einen »außerordentlichen Fall von kollektiver Autosuggestion, wie er in einem modernen Heer seinesgleichen suchen dürfte«. Über die Rekonstruktion der Massaker hinaus untersuchen die beiden Historiker, wie die Ereignisse sich in den Erfahrungen von Besatzern und Besetzten spiegelten und welche Bedeutung ihnen in der Propaganda und Erinnerungspolitik beider Seiten noch während des Krieges und im Anschluss daran zugeschrieben wurden. Auf vorbildliche Weise werden die Autoren so ihrem Anspruch gerecht, das Gewebe der Lügen, Legenden und Mythen zu zerstören und der Wahrheit endlich zu ihrem Recht zu verhelfen.
Unverzichtbar als Nachschlagewerk ist die »Enzyklopädie Erster Weltkrieg«, herausgegeben von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz (Paderborn 2003). Dieser erste umfassende Versuch auf deutscher Seite, die thematischen und nationalen Grenzen der Weltkriegsforschung zu überwinden, verbindet Essays und Überblicksdarstellungen zu allen kriegführenden Staaten mit einem lexikalischen Teil, in dem unter 650 Stichworten ergänzende Informationen geliefert werden. In der britischen Geschichtsschreibung hat die Internationalisierung der Perspektive schon eine längere Tradition. Nach John Keegans Werk »Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie« (Reinbek bei Hamburg 2000), das den Akzent auf die militärische Geschichte legt, und nach Hew Strachans Auftaktband einer großangelegten Geschichte des Ersten Weltkriegs »The First World War« (Volume I: »To Arms«; Oxford 2001) hat David Stevenson, Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics, erneut das Wagnis einer Gesamtdarstellung unternommen: »1914–1918. Der Erste Weltkrieg« (Düsseldorf 2006). Der Ehrgeiz des Autors richtet sich darauf, den Krieg in allen seinen militärischen, politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Aspekten darzustellen, und dies gleichermaßen für alle am Krieg beteiligten Parteien – ein anspruchsvolles Programm. Tatsächlich hat Stevenson den vergleichenden Ansatz konsequent durchgehalten, auch wenn einschränkend festzuhalten ist, dass die militärische Geschichte gegenüber den anderen Bereichen ein Übergewicht besitzt. Stevenson macht deutlich, dass es gerade die Pattsituation nach dem Scheitern des Bewegungskrieges im Herbst 1914 war, die für eine unvorhersehbare Eskalation des Krieges sorgte. Jede Seite versuchte die andere zu übertrumpfen, um doch noch den militärischen Sieg zu erringen: durch restlose Mobilisierung aller ökonomischen Ressourcen, durch eine enorme Steigerung der Rüstungsproduktion, durch eine intensive Feindpropaganda, auch im populären Medium des Films, vor allem aber durch Erfindung immer neuer, schrecklicherer Waffensysteme. In diesem auf die allmähliche Zermürbung und Erschöpfung des Gegners angelegten totalen Krieg besaßen die Alliierten einen Vorteil: Sie konnten, weil sie die Seeherrschaft errungen hatten, auf ihre Ressourcen in den Kolonien zurückgreifen, während sich die Mittelmächte durch die alliierte Seeblockade von Zufuhren weitgehend abgeschnitten sahen. Im Blick auf die verheerenden weltpolitischen Langzeitwirkungen der europäischen Katastrophe von 1914 bis 1918 warnt Stevenson am Ende seines Buches davor, allzu leichtfertig mit der militärischen Option zu spielen: »Jede Entscheidung zum Krieg muss mit der historischen Tatsache konfrontiert werden, dass der Krieg ein schrecklich stumpfes Instrument ist; seine Nachwirkungen können nicht zuverlässig vorausgesagt werden – und er kann die Dinge nur noch schlimmer machen.«
Eine Reihe wichtiger neuer Quelleneditionen hat in den letzten Jahren unseren Blick auf die Spätphase des wilhelminischen Deutschlands geschärft. Unter Historikern galten die Tagebücher Albert Hopmans, die im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg
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