Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
barbarischen, unzivilisierten Osten wirkten über die Nachkriegszeit hinaus. Sie stellten ein »verborgenes Vermächtnis« dar, an das die Nationalsozialisten anknüpfen konnten. Von Ludendorffs Plänen zur Beherrschung und Besiedlung der eroberten Gebiete führte, wie nachgewiesen wird, eine Linie zu Hitlers Forderung nach »Lebensraum im Osten« und dem – wiederum gescheiterten – Versuch ihrer Realisierung im Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion.
Über das Los der sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg sind wir, vor allem dank der grundlegenden Arbeit von Christian Streit »Keine Kameraden« (1978; Neuausgabe Bonn 1991), gut informiert. Die Geschichte der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg ist hingegen bislang nur unzureichend erforscht worden. Dabei handelte es sich auch hier um ein Massenphänomen. Nach einer Statistik des Preußischen Kriegsministeriums vom Oktober 1918 befanden sich fast 2,4 Millionen Soldaten und über 40000 Offiziere feindlicher Armeen im Gewahrsam des Deutschen Reiches. Das größte Kontingent stellten die Russen (1,4 Millionen), gefolgt von Franzosen (500000), Briten (185000), Italienern (130000), Belgiern (46000) und Rumänen (43000). Was ihnen während einer zumeist jahrelangen Haft in deutschen Lagern widerfuhr, das hat Uta Hinz akribisch untersucht: »Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921« (Essen 2006).
Die Autorin schildert das kulturelle Leben, das sich in den Lagern entfaltete – von Lagerzeitungen, Fortbildungskursen bis hin zu Theater- und Musikaufführungen. Sie beschreibt die Kontakte, die sich mit der deutschen Zivilbevölkerung anbahnten – von Tauschgeschäften bis hin zu Liebesbeziehungen. Allerdings macht das Buch deutlich, dass die Verhältnisse in den Lagern alles andere als idyllisch waren. Denn während des gesamten Krieges litten die Gefangenen unter der miserablen Ernährung – eine Folge der alliierten »Hungerblockade«, von der die deutsche Zivilbevölkerung in gleicher Weise betroffen war. Innerhalb der Lager entwickelte sich eine »Hierarchie des Mangels«. Wer, wie viele britische und französische Gefangene, mit Paketen aus der Heimat bedacht wurde, der konnte sich noch einigermaßen verpflegen. Wer dagegen, wie die meisten russischen Gefangenen, keine Pakete bekam, der musste hungern und war daher auch anfälliger für Krankheiten. So erklärt sich, dass die Zahl der Todesfälle unter den Russen fast doppelt so hoch war wie unter Briten und Franzosen. Mit 5,06 Prozent war sie indes um ein Zehnfaches niedriger als im Zweiten Weltkrieg, wo 57,8 Prozent aller sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam umgebracht wurden. Uta Hinz verknüpft ihre Darstellung des Lageralltags mit dem fundamentalen Wandel des Kriegsbildes, der sich im Ersten Weltkrieg vollzog. Sie zeigt, dass mit der Ausweitung zum totalen Krieg auch die Kriegsgefangenen als Ressource entdeckt wurden. Sie wurden seit 1915/16 zunehmend für den Arbeitseinsatz herangezogen – zunächst vor allem in der Landwirtschaft, bald aber auch in der Rüstungsindustrie. Mit der Einbeziehung der Gefangenen in das System der Kriegswirtschaft war, wie sich im Zweiten Weltkrieg zeigen sollte, eine Büchse der Pandora geöffnet.
Ein weiteres dunkles Kapitel der Weltkriegsgeschichte schlägt Jens Thiel auf: »›Menschenbassin Belgien‹. Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg« (Essen 2007). Rund 60000 Belgier wurden zwischen Oktober 1916 und Februar 1917 zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Dabei gingen die deutschen Besatzer mit großer Brutalität vor. Die Willkür bei der Auswahl der Arbeitskräfte und ihr Transport in meist ungeheizten Viehwaggons sorgten für viel Erbitterung in der belgischen Bevölkerung. Eingehend untersucht Thiel die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der deportierten Belgier: Krankheiten, schlechte hygienische Verhältnisse und Unterernährung führten, wie bei den Kriegsgefangenen, zu einer hohen Sterblichkeit. Es waren erst die internationalen Proteste gegen das völkerrechtswidrige deutsche Vorgehen, welche die militärischen und zivilen Behörden in Deutschland dazu veranlassten, die Deportationen einzustellen und die Deportierten nach Belgien zurückzuführen. Die Studie bestätigt die These Ulrich Herberts, dass die deutsche Arbeitskräftepolitik in Belgien während des Ersten Weltkriegs einen Probelauf für die nationalsozialistische
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