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Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Titel: Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ullrich
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weniger ausfüllen konnte als in den Jahren vor 1914. Diesem Prozess der mythischen Überhöhung Hindenburgs hat Wolfram Pyta in seiner großen Biographie: »Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler« (München 2007) ein eigenes Kapitel gewidmet, und ihm spürt auch Jesko von Hoegen nach: »Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos« (Köln 2007). Dabei können die Autoren nachweisen, dass der Hindenburg-Mythos nicht in erster Linie das Produkt staatlicher Propaganda war, sondern den Bedürfnissen und Sehnsüchten der Bevölkerung nach einem »Volkshelden« und charismatischen »Führer« selbst entsprang. Hindenburg schien das zu verkörpern, was in der von zunehmenden Spannungen zerrissenen deutschen Kriegsgesellschaft verlorenging: unerschütterliche Ruhe, »Nervenstärke«, Siegeszuversicht. Die Entstehung des Hindenburg-Mythos weist damit zurück auf die Befindlichkeit des spätwilhelminischen Deutschlands – und zugleich voraus auf die Rolle, die der »Held von Tannenberg« während seiner Reichspräsidentschaft in der Weimarer Republik und in der Anfangsphase des »Dritten Reiches« spielen sollte.
    Kommt Erich Ludendorff in der Darstellung von Pyta entschieden zu kurz, so wird umgekehrt in der Biographie von Manfred Nebelin: »Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg« (München 2011) die Rolle Hindenburgs über Gebühr abgewertet. Nebelin sieht in Ludendorff den eigentlichen Macher im Gespann der beiden Feldherren, ja er spricht von einer »Diktatur«, die der General nach dem Sturz des Kanzlers Bethmann Hollweg im Juli 1917 errichtet habe. Doch das ist eine Übertreibung. Denn so mächtig Ludendorff auch war – allein herrschen konnte er nicht. Trotz seines Machtverlusts war der Kaiser immer noch Oberster Kriegsherr, der in allen Personalangelegenheiten ein Wort mitzureden hatte. Und ohne die Rückendeckung Hindenburgs hätte sein Partner nicht agieren können. Vor allem aber verkennt der Autor das wachsende Gewicht der neuen Reichstagsmehrheit aus Sozialdemokratie, katholischem Zentrum und liberaler Fortschrittspartei, auf deren Wünsche auch die Militärs Rücksicht nehmen mussten.
    Im Sommer 1915 errangen die deutschen Truppen unter Hindenburg und Ludendorff an der Ostfront ihren größten Sieg. Innerhalb weniger Monate wurden die russischen Armeen über 400 Kilometer zurückgeworfen. Ende September 1915 befanden sich Kongresspolen sowie große Teile des Baltikums in der Hand der Mittelmächte. Litauen und Kurland wurden als »Land des Oberbefehlshabers Ost« – kurz OberOst – direkt unter deutsche Militärverwaltung gestellt. Hier erhielt Ludendorff die Gelegenheit, eine Utopie zu verwirklichen, nämlich ein besetztes Territorium ganz nach seinen Vorstellungen neu zu ordnen.
    Dieses wenig bekannte Kapitel in der Geschichte des Ersten Weltkriegs hat der amerikanische Historiker Vejas Gabriel Liulevicius zum Gegenstand einer eingehenden Untersuchung gemacht: »Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg« (Hamburg 2002). Gestützt auf einen reichen Fundus von Quellen aus deutschen und litauischen Archiven, beschreibt er die Praxis der deutschen Militärverwaltung in den Jahren 1915 bis 1918. Er schildert die Konflikte, die sich zwischen den Besatzern und der einheimischen Bevölkerung entwickelten, und er fragt danach, welches »Bild vom Osten« sich in den Köpfen der deutschen Soldaten festsetzte und welche Wirkung es hinterließ.
    Militärs und Beamte führten sich im Lande OberOst wie Kolonialherren auf, die glaubten, »primitive« Völker mit den Segnungen deutscher Arbeit und Kultur beglücken zu müssen – und ihnen doch durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit, durch willkürliche Requisitionen und demütigende Rituale wie die Grußpflicht gegenüber deutschen Offizieren das Leben immer beschwerlicher machten. Je länger die Besatzung dauerte, desto mehr wuchsen Erbitterung und Hass. Die deutsche Militärverwaltung erreichte das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatte: Statt die Grundlagen zu schaffen für eine dauerhafte Beherrschung der eroberten Gebiete, förderten sie die nationalen Bestrebungen der unterjochten Völker. Lange bevor die deutsche Oberste Heeresleitung Ende September 1918 die militärische Niederlage eingestehen musste, war Ludendorffs ehrgeiziges Projekt gescheitert. Doch die langfristigen Folgen waren nach Ansicht des Autors verhängnisvoll. Die rassistischen Klischees vom

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