Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
der Radikalisierung und Totalisierung der Kriegführung: »Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War« (Oxford 2007). Zwei Themen werden miteinander verbunden: die Zerstörung der gemeinsamen europäischen Kultur, wie sie symbolhaft in dem von Deutschen gelegten Brand der Löwener Universitätsbibiothek zum Ausdruck kam, und die Entgrenzung der Gewalt, wie sie sich in dem Massensterben an den Fronten, aber auch im Genozid an den Armeniern oder im blutigen Bürgerkrieg in Russland nach der Oktoberrevolution zeigte. Durch seinen konsequent vergleichenden Ansatz korrigiert der Autor manche pauschale Annahme, wie man sie als nationale Besonderheit der einen oder anderen kriegführenden Seite zugeschrieben hat. Ergänzt wird das hier skizzierte Bild in dem von Arnd Bauerkämper und Elise Julien herausgegebenen Band: »Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918« (Göttingen 2010). Er geht der Frage nach, wie und warum es den beteiligten Gesellschaften und ihren Soldaten gelang, die ungeheuren Anforderungen und Strapazen des Krieges vier Jahre lang durchzuhalten.
Ein ungewöhnliches Buch hat der schwedische Historiker und Schriftsteller Peter Englund geschrieben: »Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs erzählt in neunzehn Schicksalen« (Berlin 2011). Er schildert das Drama des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive von neunzehn zumeist unbekannten Menschen aus allen kriegführenden Staaten – darunter ein deutsches Schulmädchen, ein französischer Ingenieur, eine englische Krankenschwester, ein belgischer Kampfflieger, ein italienischer Gebirgsjäger und ein amerikanischer Feldchirurg. Anhand von Briefen, Tagebüchern, Erinnerungen wird ein vielstimmiges Gewebe von Eindrücken, Stimmungen und Erfahrungen geknüpft. Wie der Krieg die Gefühlswelt der Protagonisten veränderte, welche physischen und psychischen Verheerungen er anrichtete, das kann man hier ganz hautnah mitverfolgen.
VII.
Der Krieg der Bilder und Erinnerungen
Am Abend des 24. Dezember 1914 ereignete sich an der Westfront Unerhörtes: Zunächst vereinzelt, bald in immer größeren Gruppen, stiegen deutsche Soldaten aus ihren Gräben, und nach anfänglichem Zögern taten es ihnen die Briten gleich. Man traf sich im Niemandsland zwischen den Schützenlinien, tauschte Geschenke aus und vereinbarte eine Waffenruhe. Dieselben Männer, die noch wenige Tage zuvor nichts unversucht gelassen hatten, sich gegenseitig umzubringen, standen nun zusammen, lachten, schwatzten, rauchten und prosteten sich zu. »Wir fühlten uns dabei glücklich wie Kinder«, notierte ein sächsischer Offizier in sein Tagebuch.
Die Verbrüderungen an der Westfront haben schon immer die Neugier angelsächsischer Historiker gereizt. Malcolm Brown und Shirley Seaton widmeten ihnen eine Untersuchung: »Christmas Truce. The Western Front December 1914« (1984). Modris Eksteins ging in seinem Buch »Rites of Spring« (Boston–New York 1989; deutsch: »Tanz über Gräben«, Reinbeck bei Hamburg 1990) darauf ein. Neuerdings hat sich Stanley Weintraub: »Silent Night« (New York 2002) des Themas angenommen. Umso erstaunlicher, dass sich kein deutscher Fachhistoriker dafür interessiert hat. Diese Lücke hat Michael Jürgs, der frühere Chefredakteur des »Stern« und Autor zahlreicher erfolgreicher Sachbücher, mit sicherem Gespür für den Reiz des Stoffes genutzt: »Der kleine Frieden im großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten« (München 2003). »Einen solchen Frieden von unten gab es noch nie in der Geschichte eines Krieges. Es hat niemals wieder einen gegeben«, betont der Autor gleich zu Beginn. »Diese – aus heutiger Perspektive betrachtet – große Weihnachtsgeschichte besteht aus vielen kleinen Geschichten. Man muss sie alle erzählen.«
Und Jürgs erzählt sie – nicht als distanzierter Chronist, sondern als engagierter Reporter, der sich möglichst nah an das Geschehen, seine Akteure und Schauplätze heranbegeben möchte. Er hat sorgfältig recherchiert und viel Material zusammengetragen: Berichte von Augenzeugen und Zeitgenossen, Regimentstagebücher und Chroniken von Truppenteilen, private Tagebücher und Feldpostbriefe. Und er hat die Schlachtfelder besichtigt, die noch heute, nach bald einem Jahrhundert, die Narben der damaligen Kämpfe tragen, und die zahlreichen Friedhöfe mit ihren weißen Steinen, auf denen die Namen der Gefallenen
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