Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
verzeichnet sind. Die Mühen haben sich gelohnt, denn Jürgs kann zeigen, dass es solche Verbrüderungen weit häufiger gegeben hat, als es in der deutschen Geschichtsschreibung überliefert worden ist. Was am Heiligen Abend begann, steigerte sich am Ersten Weihnachtstag zu einer Massenbewegung, zu einem »spontanen Aufstand von unten«, wie der Autor, vielleicht etwas überpointierend, anmerkt.
Warum aber wurde aus dem »kleinen Frieden« kein großer? Warum ging das Gemetzel, nach dem Intermezzo der Weihnachtstage, weiter, und wieso konnten sich Männer, die sich eben verbrüdert hatten, schon bald wieder massakrieren? Jürgs stellt diese Fragen zwar, aber er gibt darauf keine hinreichend plausiblen Antworten. Zweifellos waren es nicht nur die drakonischen Strafandrohungen, welche die Soldaten von einer Wiederholung der Ereignisse vom Dezember 1914 abhielten. Bei vielen waren die alten Feindbilder keineswegs von heute auf morgen verschwunden, hatten sich Loyalität zur eigenen Nation und Ge horsamsbereitschaft gegenüber den militärischen Vorgesetzten keineswegs in Luft aufgelöst. Dennoch: Für einen kurzen, magischen Moment schien sich damals die Weihnachtsbotschaft zu erfüllen: »Und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.«
Was befähigte die deutschen Truppen dazu, auf taktischer Ebene so erfolgreich zu agieren, dass sie sich vier Jahre lang gegen einen personell und materiell überlegenen Gegner behaupten konnten? Dieser Frage ist Christian Stachelbeck exemplarisch anhand einer Division nachgegangen: »Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg. Die 11. Bayerische Infanteriedivision 1915 bis 1918« (Paderborn 2010). Damit wird der Fokus erstmals gerichtet auf die mittlere Führung des Heeres, die ein wichtiges Bindeglied zwischen der Ebene der einfachen Soldaten und den höheren militärischen Entscheidungsinstanzen darstellte.
Eine wichtige Quelle für das Kriegserlebnis sind die Tagebücher Ernst Jüngers, die der Heidelberger Germanist Helmuth Kiesel in einer sorgfältig edierten und kommentierten Ausgabe herausgebracht hat: »Kriegstagebuch 1914–1918« (Stuttgart 2010). Der junge Kriegsfreiwillige kam Anfang Januar 1915 zu seinem Regiment an die Westfront. Mit schonungslosem Realismus hält er das ungeheure Ausmaß an Zerstörung fest, die Verwandlung der Schlachtfelder in Mondlandschaften, das Pulverisieren ganzer Städte und Dörfer. Und es wird geschildert, was der Krieg aus den Menschen macht, wie er sie abstumpft und verroht. Der Autor panzert sich mit Gefühlskälte, um sich von den grauenvollen Erlebnissen nicht überwältigen zu lassen. Er beobachtet die verstümmelten Leichen mit demselben mikroskopischen Blick, mit dem er in den Gefechtspausen Käfer sammelt und präpariert. Diese Haltung unterkühlter Distanz im Angesicht unermesslicher Leiden macht das Besondere, aber auch besonders Verstörende des Tagebuchs aus. Noch im Herbst 1918 begann Jünger damit, seine Aufzeichnungen für eine Buchpublikation zu überarbeiten. Das Kriegserlebnis wurde nun heroisch überformt; der Stoßtruppführer stilisierte sich selbst zum Archetypen des Kriegers, zur Inkarnation des soldatischen Mannes. So konnte »In Stahlgewittern« (zuerst 1920 im Selbstverlag erschienen) zum Kultbuch der deutschnationalen und völkischen Rechten in der Weimarer Republik werden.
In der kollektiven Erinnerung ist das Bild des Ersten Weltkriegs stark bestimmt vom Trauma der Materialschlachten an der Westfront, für die der Name Verdun zum Symbol wurde. Die Kämpfe an der Ostfront sind darüber eher in Vergessenheit geraten, sieht man von der Schlacht von Tannenberg im August 1914 ab. Dies war für das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam ein Grund, um im Jahr 2004 eine Tagung zu diesem Thema zu veranstalten: »Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung« (hrsg. von Gerhard P. Groß; Paderborn 2006). Die einzelnen Beiträge beschäftigen sich nicht nur mit den Kampfhandlungen, sondern auch damit, wie die Wirklichkeit des Krieges an der Ostfront erlebt und verarbeitet wurde und welche Rolle die Kriegserfahrungen in der Gedenkkultur nach 1918 spielten.
Die Schlacht von Tannenberg Ende August 1914 begründete den Ruhm des aus dem Ruhestand reaktivierten Generals Paul von Hindenburg. Vielen Deutschen erschien der »Befreier Ostpreußens« als eine Lichtgestalt; er avancierte zur nationalen Symbol- und Integrationsfigur, nachdem Wilhelm II. diese Rolle im Kriege noch
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